Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Arbeitsplätze um jeden Preis?
St. Gallen – Es gibt dieses fast schon legendäre Interview mit dem damaligen Volkswagen-Chef Matthias Müller anlässlich einer Tagung in Passau, in dem er von Welt-Ankündigungsweltmeistern spricht, womit er Tesla meinte und den amerikanischen Autopionier auch gleich der Wertvernichtung bezichtigte. Botschaft: VW toll, Tesla „doll“. Er spielte damals an, dass VW in einer ganz anderen Liga spiele, das zigfache an Autos produziere und dazu noch grosse schwarze Zahlen schreibe anstatt dreistelliger roter. Und das liess er inmitten des Dieselskandals raus.
Dieser Hochmut kam bekanntlich vor dem Fall, Müller ist mittlerweile Vergangenheit. Er wurde ein halbes Jahr nach seinem überheblich anmutenden Statement durch Herbert Diess als Konzernchef abgelöst. Sogar noch schlimmer erging es dem langjährigen Audi-Chef Rupert Stadler, der fast vier Monate in Untersuchungshaft sass. Nicht lange zuvor war Stadler noch ein gern gesehener Ehrengast gewesen, so etwa am Hahnenkamm-Rennen in Kitzbühel oder auf der VIP-Tribüne des FC Bayern München. Und er gab wohl auch dort zum Besten, dass Audi nicht in die Dieselaffäre verwickelt sei. Das US-Justizministerium sah das indes anders. In dessen Darstellung war Audi sogar der Erfinder der Abschaltvorrichtung. VW warf es dann nur im grossen Stil auf den Markt.
Inzwischen weiss man um den Umfang der Dieselaffäre und dass Audi genauso mit drin steckt. Und doch hielt man sehr, sehr lange fest an Stadler, wohl auch weil die Eigentümerfamilien Porsche und Piëch ihm auch dann noch das Vertrauen schenkten, als die Tragweite der Affäre publik wurde. Nun bereitet die Staatsanwaltschaft nach Informationen des Nachrichtenmagazins „Spiegel“ die Anklage gegen den ehemaligen Audi-Chef vor. Offenbar haben die Strafverfolger auch den früheren Motorenchef Wolfgang Hatz und den Dieselspezialisten Giovanni Pamio im Visier. Unter Umständen werden auch noch andere Audi-Manager dicke Post von der Staatsanwaltschaft erhalten. Doch wie immer mahlen die Mühlen der Justiz lahm. Seit Publik werden der Dieselaffäre im September 2015 werden wohl über vier Jahre vergehen, bis es – wenn überhaupt – zu einem ersten Urteil kommt. Doch das ist nur die juristische Seite der Affäre.
Von Demut keine Spur
Irgendwie wird man den Gedanken nicht los, dass man sich in Deutschland der Tragweite dieses Skandals noch immer nicht bewusst ist und die ganze Geschichte eigentlich am liebsten möglichst rasch vom Tisch wischen möchte. Nur so lässt sich die zögerliche Aufarbeitung in unserem nördlichen Nachbarland erklären. Auch mit Schuldeingeständnissen tun sich fast alle Beteiligten schwer. Demut scheint für die meisten ein Fremdwort, im Gegenteil, es geht anscheinend einigen nur noch darum, die eigene Haut zu retten.
So soll der Ex-VW-Chef Martin Winterkorn 2016 und 2017 hohe Millionenbeträge ins Ausland überwiesen haben, natürlich in die Schweiz. Wenn da etwas dran sein sollte, dann ist das ein höchst verwerflicher Schritt, die Vergangenheit zu bewältigen. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig reichte den Fall mal an die zuständige Steuerbehörde weiter. Auch im Falle Winterkorns gilt natürlich die berühmte Unschuldsvermutung. Dass aber sowohl US- als auch deutsche Staatsanwälte gegen Winterkorn ermitteln und zwar wegen Betrug und Marktmanipulation, ist ein weiterer Imageschaden.
Immerhin ein Mandat hat Winterkorn selbst heute noch inne. Er sitzt im Aufsichtsrat des FC Bayern München, dessen Vorsitzendem Uli Hoeness eben erst anlässlich der Jahreshauptversammlung kräftig die Leviten gelesen wurden und der bekanntlich eine Haftstrafe wegen Steuerhinterziehung verbüsste, 2016 aber dennoch wieder zum Präsidenten des FC Bayern gewählt wurde. Das „Volk“ vergisst eben schnell. Einer der drei Stellvertretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrates bei Bayern München ist übrigens Rupert Stadler. So viel zur moralischen Seite der Affäre.
Und die Politik?
Machtfülle verleitet immer wieder zu Dummheiten. Sie führt auch zu einer gehörigen Portion Realitätsverlust. Viele Mächtige verlieren irgendwann die Bodenhaftung. Das ist kein deutsches Phänomen. Hierzulande haben uns das einige Banker vorgeführt. So wie das Banking es in der Schweiz einst war, ist der Automobilbau „noch“ die Vorzeigebranche unseres nördlichen Nachbarlandes. Dank hoher Steuereinnahmen und der Beschäftigung von zigtausenden Angestellten glauben manche Branchenvertreter, der Politik auch heute noch auf der Nase herumtanzen zu können. Die hat mit ihren Hätscheleien aber mindestens dazu beigetragen, die Branche auf Abwege zu bringen. Das ist keine Entschuldigung aber der Versuch einer Erklärung. Die europäische Politik setzte ab den späten 1980er-Jahren auf den Dieselmotor und war überzeugt, der Umwelt damit einen Dienst zu erweisen.
Wir Bürger hatten kein schlechtes Gewissen mehr, uns mit dem Selbstzünder, der früher als Russmonster verschrien war, fort zu bewegen. Schliesslich wurde uns versichert, dass dieser umweltschonend sei und die Verbrauchswerte waren im Vergleich zu Benzinmotoren fast schon revolutionär. Dieselkraftstoff wurde in nicht wenigen Ländern steuerlich gefördert. Aus heutiger Sicht ein wirtschaftspolitischer Fehlentscheid mit falscher Signalkraft. Und was macht die (deutsche) Politik jetzt? Sie geht von einem Extrem ins andere. Unter dem paradoxen Titel „Sofortprogramm saubere Luft“ geht es nun um die Verbannung des Diesels aus den Innenstädten, konkret Fahrverbote. Das mag die Städter freuen, aber was machen nun die Millionen von Pendlern, die auf das Auto angewiesen sind, weil der öffentliche Nahverkehr zu den Spitzenzeiten – und nicht nur dann – hoffnungslos überlastet ist? Wie will man ein Verkehrsmittel über Nacht überhaupt ersetzen, das gerade auf dem Land das Hauptverkehrsmittel ist? Darauf hat die Politik keine Antwort parat, geschweige denn eine Lösung. Und die Autobranche weiss das.
Des einen Leid…
Und deshalb mischt sie auch weiter ungeniert in der Politik mit. Die Äusserungen des amtierenden VW-Konzernchefs Herbert Diess verdeutlichen dies. „Wer sich ehemalige Autohochburgen wie Detroit oder Turin ansehe, der wisse, was mit Städten passiere, in denen einst starke Konzerne schwächelten“ liess er unlängst verlauten. Das kann man durchaus als Drohung verstehen, denn er wird auch noch konkreter. Sollte die EU schärfere CO2-Grenzwerte für Autos beschliessen, seien allein bei VW etwa 100‘000 Arbeitsplätze in Gefahr. Ich bin sicher, seine Kollegen von den anderen Herstellern bestätigen diese Einschätzung. Und wer das Schaffen Frau Merkels all die Jahre über beobachtet hat, der weiss, sie wird die hoffnungslose Verflechtung mit der einstigen Vorzeigebranche nicht (mehr) beenden. Das wäre schliesslich ein Haufen Arbeit und unangenehm dazu. Das dürfen dann ihre Nachfolger(innen) übernehmen. Die sollten sich von der Autolobby nicht mehr ins Bockshorn jagen lassen, wie das fast alle Kanzler der Nachkriegszeit gemacht haben. Denn für den Arbeitsplatzabbau in der deutschen Automobilindustrie wird nicht die Umweltpolitik sorgen. Das werden Industrie 4.0 und Künstliche Intelligenz erledigen. Zum Leid für viele Beschäftigte, aber immerhin zur Freude der Aktionäre.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen