Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: USA first
St. Gallen – In den USA ist ein Präsident am Ruder, der die Gemüter scheidet und der schon auf einige Eskapaden zurückblicken kann. Aber man gewöhnt sich an vieles, wenn die Wirtschaft rund läuft. Und das ist zurzeit zweifellos der Fall. Wir freuen uns darüber, dass der Wechselkurs nicht mehr ganz so arg zwickt, Europa endlich zum Wachstum zurückgefunden hat und die USA sich als zuverlässige Lokomotive des globalen Konjunkturzuges erweisen. Hier ist Amerika tatsächlich zuvorderst – first sozusagen.
Dass es Europa wieder besser geht, ist auch bei uns spürbar. Die Zuwanderung ist abgeebbt, wohl weil die Beschäftigung in Europa wieder steigt. Und der Frankenschock tut dank global guter Auftragslage in der Industrie und beim heutigen Kurs auch nicht mehr so weh. Europa brauchte allerdings eine gefühlte Ewigkeit, um endlich auf den Wachstumspfad zurückzufinden. Schon die Subprime- und dann die Eurokrise erst recht hatten Europa förmlich gelähmt, vor allem die europäische Peripherie, aber auch Frankreich kam nie so recht auf Touren. Ausserdem sorgten der Brexit sowie das Superwahljahr in Europa für zusätzliche Unsicherheit.
Amerika kam da viel früher aus den Startblöcken. Der Rebound der US-Konjunktur erfolgte im Lauf des Jahres 2009. Dank massiver Anschubhilfe durch den Staat, der zunächst Wallstreet zwangssanierte und zudem Milliarden in die Konjunktur einspritzte. Das haben die Europäer 2009 zwar auch getan, aber haben dabei versagt. Es gelang ihnen nämlich nicht, ihren Finanzsektor zu stabilisieren. Mit der Folge, dass der 2011 beinahe über Griechenland gestolpert wäre und die Realwirtschaft erneut lähmte. Einmal mehr haben es die USA den Europäern gezeigt: Krisen löst man nur, wenn man sich für das Grobe nicht zu schade ist, egal was es kostet. Und der Erfolg scheint diesem brachialen Konzept Recht zu geben. Tatsächlich?
Aufschwung mit Schatten
Zweifellos sind die USA der Welt insofern schon mal eine Nase voraus, als sie im Konjunkturzyklus am weitesten fortgeschritten sind. Das Gleiche trifft für die Geldpolitik zu, die wenigstens Schritte in Richtung einer Normalisierung eingeleitet hat. Eine Normalisierung, über welche man in Europa höchstens vage spricht, in Japan aber erst gar nicht nachdenkt. Und auch der Arbeitsmarkt hat sich in den USA kräftig erholt. Waren an der Spitze der Krise noch über sechseinhalb Millionen ohne Job, sind es heute „lediglich“ noch knapp 1,8 Millionen. Die Arbeitslosenquote sank von damals fast 10% auf heute unter 4%. Das ist ein beeindruckender Leistungsausweis. Doch damit ist des Guten noch nicht genug. Auch die Inflation, welche sich Herr Draghi so sehnlich herbeiwünscht, liegt im Zielbereich der amerikanischen Zentralbank, die Kerninflationsrate bei 1,9% im Vorjahresvergleich, die gesamte Rate bei 2,5%. Es ist vor allem mal wieder das Erdöl, das die Preise treibt. Der Lohnauftrieb ist dagegen nach wie vor bescheiden.
Das sind alles sehr gute Nachrichten, es gibt aber auch einen Haken, besser gesagt zwei. Zum einen ist die Partizipationsrate der Bevölkerung am Arbeitsmarkt massiv gesunken. Sie lag zu Beginn der Clinton-Ära, die eine ähnliche lange wirtschaftliche Expansionsphase markierte wie die derzeitige Expansion, bei etwas über 61% und stieg dann auf deutlich über 64%. Die Rezession 2009 nach der Lehman-Pleite hat zu einem Rückschlag der Partizipationsrate auf Werte nahe 58% geführt, ein Rückschlag, von dem sich die Wirtschaft nicht mehr erholte. Selbst heute, nach neun Jahren Aufschwung in den USA sind es nur wieder knapp 60% der erwerbsfähigen Personen, die auch tatsächlich einer Beschäftigung nachgehen.
Auf Pump wie überall
Der zweite Haken ist die massive Überschuldung der USA. Clinton nutzte seinerzeit das wirtschaftliche Momentum und hat die Staatsschuldenquote der USA so weit reduziert, dass die USA schon gegen Ende der Neunzigerjahre die Maastrichtkriterien (wieder) erfüllten. Das ist seit dem keinem Präsidenten mehr gelungen. Der aktuelle Präsident legt darauf wohl auch keinen grossen Wert, hat er doch noch eine Schippe drauf gelegt, in dem er die Steuern senkte. Was natürlich bald mal fehlende Einnahmen bedeutet. Der konjunkturelle Vorläufer der Welt und vermeintliche Musterknabe der Krisenüberwindung macht es also wie alle. Er produziert Wachstum auf Pump. Auch da sind die USA der Vorreiter der Welt. So lange die keine Anstalten zur Konsolidierung der Staatfinanzen unternehmen, werden es auch die anderen Staaten unterlassen. Der Herd der nächsten Krise steht einmal mehr fest. Es ist der Leverage der öffentlichen Finanzen.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen