Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Weniger Tabak, aber Berge von Zucker

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Weniger Tabak, aber Berge von Zucker
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Zucker ist nicht gerade gesund. Aber obwohl wir das alle wissen, essen wir trotzdem gern Süsses und das nicht zu wenig. Zucker kann sogar süchtig machen. Die Befriedigung des Heisshungers auf Schokoladentorte sei vergleichbar mit einem Heroinkick, sagen Forscher. Die aufmerksamen Eltern unter Ihnen haben sicherlich auch schon beobachtet, wie ihre Sprösslinge reagieren, wenn man ihnen zu viel des süssen Giftes gönnt. Die werden im Minimum anstrengend, meist fast unerträglich. So wirkt Zucker. Nur wird das ausgeblendet, denn der Genuss steht im Vordergrund.

Drum ist auch nicht von Sucht- sondern von Genussmittel die Rede. Dabei hat wahrscheinlich schon jede(r) einmal das Theater in einem Laden mitverfolgt, wenn ein Mädchen oder ein Bube, die Süssigkeiten, welche sie Mama oder Papa in den Korb geschmuggelt hatten, zurücklegen mussten. Was für ein Theater! Das oft nur mit Zugeständnissen der Eltern endet. Die Kleinen sind auch schon süchtig. Und Sucht ist nüchtern wirtschaftlich betrachtet ein sehr lukratives Geschäft.

Eigentlich liegt es in der Zuständigkeit des Staates, uns vor gesundheitsschädigenden Produkten zumindest zu warnen, wenn er uns schon den Konsum nicht verbieten darf. So wie dies etwa bei Tabak der Fall ist. Dessen Verpackungen strotzen inzwischen vor Totenköpfen genauso wie vor Warnungen, die einem mindestens zu denken geben (müssten). In meiner Jugend wurde Rauchen in der Werbung noch als moderner Zeitgeist zelebriert. Nur dank einer Zigarette stemmte das berühmte „HB-Männchen“ in der Fernsehwerbung den mühsamen Alltag. Und da war auch noch dieser coole Marlboro Cowboy und mancher ging gar meilenweit für eine Camel Filter. Heute ist Werbung für Tabak weltweit fast überall verbannt. Und während man früher selbst als Nichtraucher im Ausgang seine Nikotindosis abbekam, sind die Raucher heute fast schon geächtet. Sie frieren im Winter mit ihren Glimmstengeln vor den Bürofassaden, tummeln sich in wenig anziehenden Fumoirs und sind so bei der Befriedigung ihrer Sucht aussen vor. Früher mal in, ist Rauchen heute definitiv out.

Auf Samtpfoten…
Zucker ist da schon zeitloser. Werbung mit Süssem – die Rede ist hier namentlich von Industriezucker und Süssigkeiten – ist hingegen im Fernsehen oder anderswo gang und gäbe und zwar ohne Vorbehalte. Von Risiken oder Nebenwirkungen nirgends die Rede. Vor etwas mehr als zehn Jahren haben in den USA Fettleibigkeit und Bewegungsmangel das Rauchen als Todesursache Nummer 1 bei vorzeitigen Todesfällen abgelöst. Nicht allein wegen Zucker versteht sich, aber auch. Und doch spricht man weiter von Genuss und weniger von Gefährdung. Alles andere wäre ja auch heikel. Stellen Sie sich eine Packung Toblerone vor, die mit lauter fettleibigen Mitmenschen zugepflastert ist und auf der in grossen Buchstaben eine unmissverständliche Warnung aufgedruckt wurde, wie: „Zucker ist tödlich“. Das kann einem den Konsum schon etwas vermiesen und Fakt ist nun mal: Niemand will freiwillig auf Industriezucker verzichten. Für die Lebensmittelindustrie ist Zucker zudem eine lukrative Geschichte, denn Industriezucker ist sehr günstig in der Herstellung und er macht so manches, in der Ernährungslehre umstrittenes Produkt erst noch schmackhaft. Zucker ist daher fast schlimmer als Tabak.

Nikotin oder Teer klingen schon ziemlich schädlich. Zucker umschleicht uns Menschen hingegen auf Samtpfoten aus Maissirup, Laktose, Fructose, Amazake, Galaktose oder ähnlichen wissenschaftlichen Begriffen. Der Normalverbraucher merkt gar nicht, dass es sich um Zucker handelt. Kein Wunder konsumiert er wahrlich Berge davon. Wir Schweizer bringen es auf gut 50 Kilogramm Zuckerkonsum pro Jahr und Kopf. Das ist ein Platz unter den ersten Zehn der Welt. Im Schnitt der EU werden 36,7 und in den USA „nur“ 33,8 Kilo jährlich konsumiert (2016).

…wie Facebook & Co
Doch nun zum eigentlichen Thema. Welche Gemeinsamkeiten haben die Berge von Zucker mit Facebook? Mehr als man denkt und das liegt überhaupt nicht am inspirierenden Spiel mit dem süssen Gift und dem Namen des Facebookgründers. Dafür kommt Facebook genau gleich auf Samtpfoten daher und hat noch diesen super positiv besetzten Branchencode des sozialen Netzwerkes, weil a) das pure Gegenteil von asozial ja nur gut sein kann und b) ein Netzwerk schliesslich auf Freiwilligkeit beruht und daher harmlos sein muss. Niemand zwingt uns, Zucker zu konsumieren oder Facebook. Doch beide sind wirtschaftlich extrem rentabel. Facebook ist eine einzigartige Profitmaschine, die 2017 dank ihrer einzigartigen Monopolstellung eine unverschämt hohe Umsatzrendite von fast 40% erwirtschaftete. Davon können normale und noch so innovative Unternehmer nur träumen.

Und ausgerechnet jetzt passiert dieser Skandal um die Daten, der die halbe Welt in Entsetzen versetzt und die nun so tut, als hätte sie von all dem nichts geahnt. Dabei war schon von Ende 2016 im Magazin des Tagesanzeigers darüber spekuliert worden, dass die Firma Cambridge Analytica die US-Präsidentschaftswahlen beeinflusst haben könnte. Nix, der CEO von Cambridge Analytica prahlte damit öffentlich und ungestraft. Jüngst aber schlugen die Emotionen plötzlich hoch, als raus kam, dass Facebook Nutzerdaten in viel grösserem Umfang missbraucht wurden als bisher angenommen. Wie naiv ist die Welt eigentlich?

Zeit ist Geld, Daten sind die neue Währung
Facebook ist alles, nur kein altruistischer Dienstleister. Facebook ist eine Firma, die den Profit maximiert und nicht den Nutzen seiner Kunden und das alles allein auf Grund seiner Monopolstellung kann. Facebook räumt skrupellos Konkurrenz von der Bühne. Um jeden Preis, wenn es sein muss, wie uns die Übernahme von Whatsapp für gut 19 Milliarden Dollar vor Augen führte. Ich erinnere mich noch, wie gross damals der Aufschrei darüber war. Es wird zwar niemand gezwungen, Facebook beizutreten, aber leider gibt es zwei menschliche Eigenschaften, die für Facebook spielen. Da ist zum einen die Vergesslichkeit, zum anderen der Gruppenzwang. Wissen Sie noch, wann Whatsapp übernommen wurde? Und wer weiss eigentlich noch genau, was Zuckerberg konkret vor dem Senat aussagte und was sich wann ändern wird? Mal ehrlich, das ist schon fast wieder Schnee von gestern, nicht? So viel zur Vergesslichkeit. Und dann der Gruppenzwang.

Der rationale homo oeconomicus, den es bekanntlich ja nur in den Modellen der Ökonomen gibt, hätte den sicher nicht. Offenbar lässt der Gruppenzwang aber viel zu vielen gar keine andere Wahl, als seine Freundschaften via digitales Netzwerk am Leben zu halten. Schon beim Formulieren dieses Satzes könnte ich die Wände hoch gehen. Gehört Facebook heut folglich zu den peripheren Gütern? Ist es ein Gut des täglichen Bedarfs, für die Menschheit unverzichtbar und darf deshalb nichts kosten? Weit gefehlt. Facebook ist ein Luxusgut (wie Zucker), das wir uns nur leisten, weil wir vor lauter digitalem Stress nicht mehr zu persönlichen Beziehungen zu Menschen taugen. Wir haben mehr Zeit als all unsere Vorfahren, denn unsere Grundbedürfnisse sind heute mit wenigen Minuten Arbeit befriedigt. Dafür verbringen wir mindestens 2 Stunden pro Tag im Netz, das mittlerweile ja auch mobil ist, so dass wir es mit unseren Freunden vor Ort teilen können.

Das Netz notabene, nicht die Zeit und das fast gratis. Doch merke: gratis ist nix! Du bezahlst mit Zeit, die Du im Netz verbringst und deinen Daten. Zeit war schon immer Geld, Daten sind die Währung der heutigen Zeit. Beides kriegt Facebook gratis von uns. Hut ab vor Facebook und Co. Günstiger komme ich nirgends ins Geschäft.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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