Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Nicht ganz dicht?

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Nicht ganz dicht?
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Ich gehöre zu einem geburtenstarken Jahrgang. Wenn wir richtigen Sommer erleben wollten, heiss musste es sein, dann ging es in den Ferien nach Italien, wo es viele Familien des damaligen Wirtschaftswunders hinzog. Sechs Personen in einem VW Käfer mit Gepäck auf dem Dach und doch beschlich mich kein Gefühl der Dichte. Heute sind die Autos meist nur noch mit einer Person besetzt und man fliegt im Urlaub weiss Gott wohin, um vor der Hitze hierzulande zu flüchten. Denn hier ist es heute genauso heiss wie in Italien.

Es war anders früher. Obwohl mindestens so dicht wie heute, hat man gar nicht gross darüber diskutiert. Schlange stehen war üblich, sei es im Laden an der Kasse oder vor öffentlichen Schaltern, im Schulbus herrschte grosses Gedränge. Und überall, soweit ich mich erinnern kann, waren Kinder. Italien war für mich der Inbegriff von Dichte ohne Stress. Fairerweise natürlich aus der Sicht des Besuchers. Die Italiener sind da schon leidgeplagt.

Dichtestress
In der Schweiz herrscht schon seit längerem Dichtestress. Der Begriff fasste um die Jahrtausendwende Fuss und schaffte es zum Unwort des Jahres 2014. Raumplaner, Architekten, Verkehrsexperten, interdisziplinäre Teams aus vielen Branchen, die sich professionell mit Fragen des Bodens beschäftigen, suchen Wege für die Schweiz der Zukunft. Und überall steht Dichte zuoberst auf der Tagesordnung. Die Prognosen für das Land sehen nach enger zusammenrücken aus. Gemäss Bundesamt für Statistik wird die Bevölkerung bis 2045 auf über 10 Millionen Menschen steigen. Die Erwerbsbevölkerung soll bis dahin um eine halbe Million auf 5,328 Millionen zunehmen. Wohin mit all diesen Menschen? Welche Verkehrswege müssen für sie bereitgestellt werden, um vom Wohn- zum Arbeitsort zu gelangen? Haben wir überhaupt genug Platz?

Unruhige Dichte
Mir fällt auf, dass meine Generation darüber anders denkt als die sogenannten «Jungen». Wer in einer sechsköpfigen Familie in einer Vierzimmerwohnung aufgewachsen ist, damals Mittelstand notabene, der träumte in seiner Kindheit im Stillen schon vom eigenen Heim, mit Garten versteht sich. Und so landeten etliche von uns später auch in einem solchen, allerdings nicht mal zwingend mit Nachwuchs. Pro Kopf beanspruchen wir heute etwa 43 Quadratmeter Wohnfläche, das ist mehr als doppelt so viel wie in den frühen Neunzehnsechzigerjahren. Wenn wir also hören, dass noch so viele neue Zuwanderer ins Land strömen, wo doch der Boden so knapp ist, beschleicht uns ein ungutes Gefühl. Die Jüngeren unter uns sehen das deutlich entspannter und scheuen vor allem bauliche Dichte weniger. Aber das ist nicht immer ganz ehrlich. Wer es sich leisten kann, sucht in der Schweiz früher oder später halt schon gern sein ruhiges Plätzchen. Dichte und Ruhe hingegen beissen sich. Denn je mehr Menschen sich auf ein Flecken tummeln, desto lauter wird es. Und Lärm ist für eine überalternde Gesellschaft eher ein Problem.

Die Lösung ist klar, nicht aber die Verteilung
Bauliche Verdichtung ist relativ einfach definiert. Man versucht mit planerischen und baulichen Massnahmen aus einer Parzelle Land möglichst viel Quadratmeter Wohnfläche herauszukitzeln. Geschosshöhen oder Gebäudeabstände sind solche Massnahmen, die alle in Richtung einer höheren Ausnützungsziffer zielen und absolut wirksame Instrumente, die man soweit lockern sollte, wie nur möglich. Doch sie sind nicht die Lösung des Problems. Die läge einzig in der Beschneidung unserer Flächenansprüche.

Wenn heute an bester Lage in der Innenstadt ein bestehendes Gebäude verdichtet wird, in dem es entkernt, komplett saniert und um ein Geschoss erweitert wird, dann entsteht zwar eine höhere bauliche Dichte. Wenn dann aber ein Single die grosszügige neue Dachwohnung mietet oder kauft, kann von Verdichtung keine Rede mehr sein. Die Fläche ist «falsch» verteilt worden, müsste man aus raumplanerischer Warte feststellen. Wer sich nicht technokratisch oder politisch sondern aufrichtig mit der Frage der Verdichtung auseinandersetzt, wird schnell zum Schluss kommen, dass Dichte überhaupt nicht gefragt ist – oder wenn doch, die Zahlungsbereitschaft dafür nicht sehr hoch ist. Nicht umsonst sind in den globalen Metropolen die Dichten da am höchsten, wo die Ärmsten wohnen und nicht in Downtown mit den Luxusappartements. Beides keine Alternativen für die Schweiz versteht sich. Am Ende fürchten hierzulande zu viele um ihre See- oder Bergsicht, um die freie Besonnung oder die Beschaulichkeit ihres Quartiers. Daher kommt auch das flaue Gefühl zur Bevölkerungsprognose. Ganz so dicht wollen wir es nun auch nicht. Schon gar nicht so dicht, wie auf den Strassen.

Fläche umverteilen
Gegen Ende meiner Kindheit sind wir endlich in das langersehnte Einfamilienhaus umgezogen. Meine drei älteren Geschwister zogen in den darauf folgenden vier Jahren aus und ich hatte mit meinen Eltern mehr Platz als wir eigentlich brauchten. Am Ende waren sie allein im Haus. So geht es nicht wenigen auch in der Schweiz. Dieses Potenzial zu mobilisieren, könnte den Markt deutlich verflüssigen und die Verdichtung da vorantreiben, wo sie auch wirkt, beim Flächenverbrauch pro Kopf. Würden wir all den (älteren) Haushalten, heute in oft nicht altersgerechten Häusern oder Wohnungen lebend, die ihnen längst zu gross geworden sind, eine ihren Ansprüchen und finanziellen Möglichkeiten entsprechende Alternative bieten können, dann würde enorm viel Fläche frei werden. Verdichtung, nur eine Frage der Verteilung. Dann reicht es auch für 10 Millionen.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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