Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Dünnes Eis

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Dünnes Eis
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Die Euphorie an den Finanzmärkten, die nach der Trump-Wahl an den meisten Börsenplätzen zu einer Jahresendrallye und damit vielerorts zu einem versöhnlichen Jahresschluss 2016 führte, scheint sich in der zweiten Handelswoche des neuen Jahres etwas zu verflüchtigen. Kein Wunder so weit, es ist Vorsicht angesagt, denn am Wochenende wird Trump definitiv das Zepter übernehmen, womit der Realitätscheck in Amerika eigentlich erst richtig beginnt.

Dazu sorgten einige seiner jüngsten Äusserungen für Irritationen: In Europa wegen seiner Warnung an die «Schmarotzer der NATO», die nicht die gewünschten 2% des BIP in die Rüstung stecken. Aber auch in China, das bereits das Wording Handelskrieg benutzt und gleichzeitig darauf verweist, dass es in einem solchen Krieg nur Verlierer gibt. Die 20‘000er Marke mochte der Dow Jones Index in der Folge nicht knacken, obwohl es eigentlich nur eine Frage der Zeit schien, bis diese psychologisch wohl wichtige Schwelle fallen würde. Dieses Momentum ist mittlerweile auch verflogen. Die jüngste Richtung der Kurse verlief weitestgehend seitwärts. Kommt jetzt die Phase der Ernüchterung oder folgen gar schmerzhafte Korrekturen?

Ganz auszuschliessen ist dies nicht. Denn, seien wir einmal ehrlich: Wer hätte schon damit gerechnet, dass Donald Trumps Wahl ein Kursfeuerwerk und eine kleine Zinswende auslösen sowie dem Dollar einen solchen Schwung verleihen würde? Mehr oder weniger niemand. Und wenn doch, wurde diese Einschätzung höchstens kleinlaut vertreten. War es nach der Brexit-Abstimmung der Briten nicht genau gleich? Auch dieser vermeintliche GAU war unerwartet schnell verkraftet. Der Taucher unmittelbar nach der Abstimmung war nur kurz und der britische Börsenleitindex FTSE 100, der die 100 grössten Firmen der Insel abbildet, liegt heute rund 25% höher als vor dem Brexitvotum. Das Referendum in Italien schliesslich liess die Märkte völlig kalt und spätestens nach der Trump-Wahl wurde klar, wie die Finanzmarktakteure ticken. Sie preisen mit viel Fantasie schnell einmal ein, was sie sich Gutes von Trump erhoffen, schieben die Zweifel an seiner Person aber auf die lange Bank.

Von elterlicher Obhut…
Die Märkte begehen damit sehr, sehr dünnes Eis und scheinen sich dessen auch durchaus bewusst. Offenbar fühlen sie sich aber trotzdem sicher, so wie ein kleines Kind, das nichts umwirft, solange es die Hand von Mama oder Papa fest umklammert hält. Das erinnert mich irgendwie an den Song „thin ice“ von Pink Floyd.

Darin geht es zwar um etwas völlig anderes als Marktakrobatik. Der Song beginnt aber mit einer Strophe, die das Verhalten der Finanzmarktakteure treffend widerspiegelt: „Momma loves her baby and daddy loves you too, also „Mama liebt ihr Baby und Papa liebt dich auch“(…). Was gibt es schon Besseres als Elternliebe? Da fühlt man sich doch gleich etwas sicherer, geborgen und geschützt gegen sämtliche Unwägbarkeiten des Lebens. So wie die Deutschen, die dank „Mutti“ Merkels beruhigenden Litaneien finden, es sei ja alles halb so schlimm mit den Renten, dem Euro oder den Flüchtlingen.

…und Schutzengel
Die Finanzmärkte haben eine noch viel stärkere Rückendeckung als wohlbehütete Babys. Sie haben auf jedem Kontinent ihren eigenen Schutzengel, nur heisst der mal Yellen, mal Draghi, mal Kuroda. Deren ungehemmt aggressive Geldpolitik hat die Märkte dermassen eingelullt, dass sie sich vor allem nahezu sicher fühlen. Nur dies erklärt, dass selbst die zahlreichen und zunehmenden geopolitischen Unsicherheiten die Märkte nicht aus der Bahn werfen. Jede Politik lässt die Märkte kalt, ausser der Geldpolitik.

Die Finanzmarktakteure gehen mit hoher Sicherheit davon aus, dass selbst der auf dem Papier mächtigste Mann der Welt letztendlich die Segel vor der Allmacht der Geldpolitik streichen müssen wird. Die Geldpolitik hat nach Meinung der meisten Insider grösseres Unheil abgewendet, daher hat sie seit der Lehmankrise aber auch global das Sagen und längst nicht mehr die politische Exekutive, welche mit ihrem auf Pump finanzierten Wachstum die meisten Staaten in den Schuldensumpf geführt hat. Naiv wie die Märke nun einmal sind, verlassen sie sich weiterhin und schon fast blind auf ihren Schutzengel. Es zeigt sich seit 2014 sehr deutlich, dass politische Unsicherheit nicht mehr zu erhöhter Nervosität an den Börsen führt, wie das früher immer der Fall war. Seit geraumer Zeit laufen die Volatilität, das Angstbarometer an der Börse, und der sogenannte politische Unsicherheitsindex, der die Anzahl der in den Medien genannten politischen Unsicherheiten misst, diametral auseinander. Die Märkte scheinen hochgradig abgestumpft. Auf Dauer kann das nicht gut gehen, denn ein happy end ist nicht zwingend vorprogrammiert. Und den Schutzengel kann man bekanntlich ja auch aufbrauchen. (Raiffeisen/mc/pg)

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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