Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen, im Interview
von Patrick Gunti
Moneycab.com: Herr Neff, ein Jahr mit unzähligen finanz- und geopolitischen Baustellen neigt sich dem Ende entgegen. Dürfen wir Ihnen einige Stichworte nennen, zu denen Sie kurz mögliche Folgen für die Märkte skizzieren – mit der grössten aller Unbekannten zu Beginn?
Martin Neff: Gerne.
Also, beginnen wir mit Donald Trump
Martin Neff: Da haben die Märkte schon sehr viel „Goodwill“ eingepreist, was das Rückschlagpotenzial erhöht, wenn Trump nicht in nützlicher Frist liefert, was er in Aussicht gestellt hat. Mein Eindruck ist, dass die Märkte mal alles Positive vorweg genommen haben und hoffen, dass er mit manch abstruser Idee aus dem Wahlkampf, sprich Handelshemmnisse etc., nicht Ernst machen wird.
Brexit
Das wird zwar schleichend über die Bühne gehen, aber doch mehr Konturen annehmen als im letzten Jahr. Die Entflechtung Grossbritanniens von der EU und die schrittweise Konkretisierung des Brexit werden sicherlich für die eine oder andere Aufregung sorgen. Und nicht nur dem britischen Markt die eine oder andere Delle bescheren.
«Unverändert bleibt ein grosses Fragezeichen hinter dem Reich der Mitte. Ich bin skeptisch, ob die derzeitige Politik eine nachhaltige Wachstumsbeschleunigung bringt.»
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen
Mario Draghi
Wird vornehmlich besorgt sein, die Zinsen in Europa von denen in den USA abzukoppeln. Dafür dürfte ihm jedes Mittel recht sein. Etwas anderes bleibt im gar nicht übrig, denn die Konjunktur in Europa ist lau und die Schuldenkrise kann jederzeit wieder zum Thema werden, wenn die Zinsen unkontrolliert steigen.
Öl
Der Ölpreis dürfte nicht mehr viel Luft nach oben haben, denn jetzt ist es auch für mehr Anbieter wieder lukrativ, zu fördern, da sie bei Preisen von über 50 Dollar/Barrel wieder profitabel wirtschaften. Die Nachfrage wird ausserdem keine zusätzlichen Preisimpulse geben.
China
Unverändert bleibt ein grosses Fragezeichen hinter dem Reich der Mitte. Ich bin skeptisch, ob die derzeitige Politik eine nachhaltige Wachstumsbeschleunigung bringt. Das erinnert sehr stark an Japan Ende der Achtzigerjahre. Die Euphorie wird jedenfalls nicht zurückkehren und der Hype ist wohl endgültig verflogen. Besonders problematisch ist vor die hohe Verschuldung der Unternehmen.
Die US-Notenbank Fed hat einen weiteren Zinsschritt vorgenommen und generell mehren sich die Stimmen, die von einer Trendwende und einem Ende der sinkenden Zinsen sprechen. Ihre Einschätzung?
Das mag für Amerika zumindest aktuell zutreffen. Für Europa bin ich mir da aber nicht so sicher und auch nicht für die Schweiz. Die SNB wird zur Frankenschwächung weiter auf das Abwehrdispositiv negativer Zinsen setzen.
Für wie effektiv halten Sie die Massnahme und was ist, wenn obgenannte mögliche Trendwende nicht eintritt?
Zumindest nicht für so effektiv, wie die SNB dies kommuniziert, denn sie war wiederholt gezwungen, auch am Devisenmarkt zu intervenieren. Für mich überwiegen bei diesem Experiment eindeutig die negativen Begleiterscheinungen. Und wenn es zu keiner Zinswende kommt, dann wird die SNB wohl stur an diesem Konzept festhalten.
In der Schweiz hat das reale BIP im 3. Quartal stagniert, beim Seco erwartet man im 4. Quartal aber wieder ein stärkeres Wachstum und sagt, dass «sich die Erholung vom Frankenschock fortsetzt». Teilen Sie diese Einschätzung?
Nein, überhaupt nicht. Sie mag auf hohen Aggregationsniveau zutreffen, ist aber im Detail falsch. Wir erleben einen sehr einseitigen Exportboom dank boomender Pharmaindustrie, während alle anderen Exportzweige noch immer massiv Mühe bekunden. Und das Beschäftigungswachstum ist ebenso einseitig und fast ausschliesslich auf staatsnahe Sektoren – Verwaltung, Gesundheit, Bildung und Soziales beschränkt, für welche der Wechselkurs keine Rolle spielt. Unter Überwindung versteh ich etwas anderes.
«No risk no return – klingt abgedroschen, aber ist wahrer denn je.»
Wagen wir trotz volatilen Märkten und tiefen Zinsen zum Trotz einen Ausblick. Was können die Anleger an den Aktienmärkten nächstes Jahr erwarten?
Immer wieder kehrende Volatilität, bescheidene Kursavancen, aber doch auch eine gewisse Absicherung gegen unten, denn die Dividendenrenditen schlagen auch 2017 Erträge aus festverzinslichen Anleihen.
Wie lautet Ihr Anlagetipp für 2017?
No risk no return – klingt abgedroschen, aber ist wahrer denn je. Richemont oder Swatch, die wohl zu viel Federn gelassen haben 2016, oder LafargeHolcim, die weiter vom globalen Bauboom und eventuell höheren Infrastrukturausgaben in den USA profitieren dürften. Und sollten die Zinsen doch steigen, dann kann vielleicht sogar wieder mit Bankaktien liebäugeln.
Kommen wir noch auf Immobilien zu sprechen. Raiffeisen hat in den letzten Monaten die verschärften Tragbarkeitskriterien bei der Hypothekenvergabe wiederholt kritisiert. Ein Vorschlag ist, die kalkulatorische Tragbarkeit von derzeit 5% zu senken. Was passiert denn, sollte es doch unerwartet zu einem starken Anstieg der Zinsen kommen?
Das wird nicht passieren und wenn, dann nicht völlig isoliert nur bei uns und ohne massive Konjunkturaufhellung, was dann wiederum lindernd wirken würde. Und wenn doch, dann sorge ich mich mehr um Europas Peripherie, als um Schweizer Hauseigentümer. Zudem klammern wir mit unserem Vorschlag einer längeren Kreditlaufzeit dieses Zinsrisiko ja aus.
Würden gelockerte Tragbarkeitsbedingungen nicht zwangsläufig auch wieder zu steigenden Immobilienpreisen führen?
Das ist nicht vollends auszuschliessen, vor allem dann, wenn man sie pauschal und flächendeckend lockert; das ist aber nicht unser Ansinnen.
«Unter einem wirtschaftlichen Erfolgsmodell verstehe ich, dass jeder, der dazu beiträgt, auch angemessen davon profitiert. Das war und ist aber nicht der Fall.»
In ihrer «Sicht des Raiffeisen Chefökonomen» haben Sie sich zuletzt wiederholt mit der wachsenden Ungleichheit in der Gesellschaft beschäftigt und deutliche Kritik am heutigen Wirtschaftssystem geäussert. Was läuft Ihrer Meinung nach grundsätzlich schief?
Dass das Wachstum nicht allen, die zur Wertschöpfung beitrugen, auch zu Gute kommt. In den letzten 25 Jahren haben sich die Ungleichgewichte in der Einkommens- und vor allem Vermögensverteilung verschärft. Unter einem wirtschaftlichen Erfolgsmodell verstehe ich, dass jeder, der dazu beiträgt, auch angemessen davon profitiert. Das war und ist aber nicht der Fall. Man denke nur an die Finanzkrise. Da mussten letztlich die Steuerzahler in die Tasche greifen, um Banken zu retten, die nach wie vor exorbitante Gehälter auszahlen.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung zeigt sich in einer Wahl Donald Trumps, dem Brexit-Votum, immer lauter werdenden Populisten oder Protesten gegen Handelsabkommen wie TTIP und CETA. Auffallend ist, dass sich die Unzufriedenheit nirgends so stark manifestiert wie in westlichen Demokratien. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Jein. Nach meinem Dafürhalten liegt das am generell hohen Wohlstand, der jetzt auf der Kippe steht, was vornehmlich dem Mittelstand und den tieferen Einkommensklassen Sorgen macht, die zuletzt kaum mehr wirtschaftliche Fortschritte verzeichnen konnten. Man hat in den westlichen Demokratien einfach mehr zu verlieren, überall ist von Disruption die Rede, die neuen Technologien schaffen Unsicherheit auch bezüglich der zukünftigen Arbeitswelten. Darüber macht sich in einem Entwicklungsland kaum jemand sorgen, denn dort geht es oft noch ums nackte Überleben. Die Menschen haben faktisch nichts zu verlieren, ausser etwas Hoffnung vielleicht.
Herr Neff, besten Dank für das Interview.