Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Müde Politik macht politikmüde

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Müde Politik macht politikmüde
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Gestern früh schockierte die Meldung, dass kurz nach dem erklärten Ende der Waffenruhe in Syrien Lastwagen mit Hilfsgütern bombardiert worden seien. Prompt kündigten die USA daraufhin an, die Zusammenarbeit mit Russland überdenken zu wollen, obwohl auch heute noch fraglich ist, ob die Russen mit dem Angriff überhaupt etwas zu tun haben. Viel eher scheint einmal mehr das syrische Regime dafür verantwortlich. Doch dessen Eskapaden lässt die politische Welt schon lange gewähren und sie sieht wohl auch weiterhin ohnmächtig dabei zu.

Wie schon nach den Giftgasangriffen von Ghuta vor drei Jahren oder den jüngsten Chlorgasattacken Assads gegen die eigene Bevölkerung bleibt es bei grossmäuligen Verurteilungen durch die USA, UNO und die anderen Grossen der westlichen Welt. Obama ist nach wie vor der Überzeugung, dass nur Diplomatie eine Lösung bringen könne. Ohnmacht pur, Worte statt Taten. Selbst die, die vor Ort wirklich beitragen, das Elend zu bekämpfen, wie die örtlichen Hilfskräfte oder die Ärzte ohne Grenzen, sind mittlerweile bedroht und vermehrt Ziel militärischer Interventionen. Dass in Syrien niemand mehr an die (Macht der) Politik glaubt, ist angesichts all des Elends, das die Menschen dort erleiden, nachvollziehbar.

Doch nicht nur in Kriegs- oder Krisengebieten nimmt die Politverdrossenheit Formen historischen Höchstmasses an. In den meisten hochentwickelten und übersättigten Industriestaaten ist dieses Phänomen sehr ausgeprägt. In Japan kämpft die Politik schon über zwei Jahrzehnte erfolglos gegen Deflation und Stagnation. Europa hat die Schulden genau so wenig im Griff wie andere Industrienationen oder die USA. Dort haben die Präsidentschaftswahlen zwar höchsten Unterhaltungswert, aber richtig ernst nehmen kann man diese Show immer weniger. Diese Realpolitik generiert vielleicht Glamour und Einschaltquoten, aber wenig wirkliches Politinteresse. Zwar hat es in den Vereinigten Staaten unverändert nur zwei grosse, traditionell den Ton angebende Parteien und vermeintlich kaum Platz für neue politische Strömungen, doch auch nur auf den ersten Blick.

Bei genauerem Hinschauen muss man festhalten, dass Donald Trump alles andere als ein typischer Republikaner ist und Bernie Sanders die festgefahrenen Linien der Demokraten neu auszuloten versuchte. Letzterer ist heute zwar nicht mehr im Rennen, war aber drauf und dran die Demokraten zu entzweien. Donald Trump indes spaltet das Lager der Republikaner, der Grand Old Party (GOP) mit ihrem wenig bescheidenen Spitznamen. Er ist sicher alles andere als ein typisch republikanischer Präsidentschaftskandidat und hat somit viel gemein mit Protest. Lediglich Hillary Clinton repräsentiert das eingerostete politische Establishment, wie wir es aus der Geschichte kennen. So wie Angela Merkel, die heute einen ähnlichen Politikstil verfolgt wie ihr längst demontierter Lehrmeister Helmut Kohl.

Nase voll
Doch in Deutschland hat der Wind ebenfalls gedreht. Nichts mehr übrig von rot oder schwarz. Fast alle denkbaren Konstellationen, von schwarz-grün über rot-grün, Ampel- bzw. grosse Koalitionen regieren schon seit längerem die Bundesländer. Selbst in Bayern verlor die CSU 2008 – wenn auch nur vorübergehend – ihre traditionelle absolute Mehrheit. Die langjährige CDU-Hochburg Baden-Württemberg ist inzwischen fest in grüner Hand. Auch in anderen Ländern Europas verlieren die etablierten politischen Kräfte an Gewicht und vielerorts auch ihre Dominanz. Sogenannte rechtspopulistische Kräfte sind häufig Nutzniesser dieser Schwindsucht, auch wenn sie wie etwa in den Niederlanden die Partij voor de Vrijheid um Gert Wilders vor Rückschlägen nicht gefeit sind. Die Front National in Frankreich scheint im Vormarsch, dazu gibt es auch auf der extremen Linken viel Zuspruch. Es geht in Richtung extrem – man kann es nicht anders zusammenfassen. Fast überall haben die Wähler die Nase voll von den traditionellen Parteien, die seit der Nachkriegszeit meist das Sagen hatten und nun in Frage gestellt werden. Noch handelt es sich um Lektionen, welche die Wähler ihnen erteilen. Aber wenn das politische Establishment diese nicht ernst nimmt – und danach sieht es eben aus – könnten Kräfte mit unvorhersehbarer Wirkung freigesetzt werden. Donald Trump lässt grüssen. Bei der AfD wäre der genauso gut aufgehoben wie bei der GOP.

Bürger in Wut
Die Bürger in Wut übertrafen 2007 knapp die Fünf-Prozent-Hürde im Wahlbereich Bremerhaven und zogen in die Bremische Bürgerschaft ein. Die Wahl hatte ein schier ewiges juristisches Nachspiel bis hin zu einer öffentlichen Neuauszählung, aber schliesslich blieb es dabei. Bürger in Wut sind nicht nur eine kleine politische Kraft im Norden Deutschlands, sondern viel mehr eine äussert treffende Bezeichnung für die oben skizzierten Phänomene, gemäss denen die traditionellen (Regierungs-)Parteien ihre Mehrheiten zusehend verlieren. Bürger in Wut wählen offenbar jede Alternative ausserhalb der Tradition, die längst nur verspricht, mit dem aufzuräumen, was den Bürgern sauer aufstösst. Ob die neuen politischen Kräfte dazu in der Lage sind oder nicht, ist deren Wählern offenbar gar nicht so wichtig. Man möchte vor allem den etablierten und als verkrustet empfundenen Strukturen einen Denkzettel verpassen. Früher entschied sich die Wählerschaft im Zweifel für bewährte Muster, das ist heute immer weniger der Fall. Der Zuspruch, den populistische Strömungen erfahren, ist im Grunde weniger in deren Erfolg, sondern im Misserfolg der Etablierten begründet. Letztere sollten diesen Protest wenigstens ernst nehmen. Doch danach sieht es gar nicht aus.

Vertrauen verspielt, vages Wissen
Das Vertrauen in die Politik ist vielerorts futsch. Die grossen Nationen haben im Hype der Globalisierung vergessen, die Ängste „des kleinen Mannes“ adäquat zu reflektieren. Selbst die mit Schulden finanzierten Wahlgeschenke konnten das Volk nicht bei Laune halten. Die Finanzkrise 2008 schliesslich machte die Kluft nur noch grösser, indem Steuergelder locker gemacht wurden, um Banken künstlich am Leben zu halten. Gelder, die heute fehlen, um die staatliche Umverteilungsmaschinerie zu speisen. Am Ende sind die Zentralbanken eingesprungen. Sie haben der Politik Zeit gekauft, damit diese ihre Hausaufgaben erledigt. Was aber, wenn das unerschütterliche Vertrauen in die letzte Bastion der traditionellen Wirtschaftspolitik auch noch erlischt? Gar nicht auszudenken. Nur so viel: Auch die Geldpolitik findet keine einhellige Zustimmung mehr und spaltet zusehends die Lager. Selbst den in Liquidität schwimmenden Finanzmärkten wird es allmählich unheimlich und die sind immerhin das wichtigste Klientel der Geldpolitik. Hoffen hat dort inzwischen Glauben abgelöst, Wissen war an den Märkten sowieso nie gefragt. Hoffen darauf, dass die Geldpolitik nicht auch zum Schluss kommt: Ich weiss, dass ich nichts weiss.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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