Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Kein Börsenjahr

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Kein Börsenjahr
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Der Jahresauftakt verheisst wenig Gutes. Die meisten Börsen haben schon mal kräftig Federn gelassen und die Hoffnungen auf einen raschen Rebound sind verflogen. Offensichtlich war der Kurszerfall des Jahresbeginns also doch mehr als die von vielen als längst fällig erachtete Korrektur. Die Stimmung ist deutlich ins Negative gekippt, nur kann keiner so recht sagen, wieso eigentlich genau.

China, Wachstumssorgen oder Ölpreiszerfall sind durchaus Gründe für die aktuelle Schwäche an der Börse. Aber sind es wirklich die springenden Faktoren? Sehr wahrscheinlich nicht, denn sie sind alle nicht mehr neu. Über Chinas Wachstum und Währungspolitik diskutiert die Welt schon seit letztem Sommer und die zyklische Verlangsamung in den USA ist ebenfalls kein Novum mehr, ebenso wenig wie der Ölpreiszerfall, der schon Mitte 2014 eingesetzt hatte, dazumal aber als Konjunkturspritze willkommen war.

Wahrscheinlich hadern die Finanzmärkte aber mit ganz anderen Dingen. Etwa damit, dass die Geldpolitik kein probates Mittel mehr findet, der Realwirtschaft richtig Schwung zu verleihen. Das ist verdammt harte Kost. Und dann noch die geopolitischen Unsicherheiten, die bislang von den Märkten kaum beachtet, inzwischen für gesteigertes Unwohlsein sorgen. Es ist weniger der Konflikt in Syrien selbst, sondern die von ihm ausgehende, gestiegene Gefahr eines Flächenbrandes, deren sich die Welt allmählich bewusst wird.

Die Annektierung der Krim durch Russland wurde von den Märkten noch stillschweigend hingenommen, die Flüchtlingswelle, die Europas Stabilität vor eine Zerreissprobe stellt, bis anhin nur am Rande wahrgenommen. Die zunehmende Eskalation in Syrien, und dass Putin und Erdogan sich gegenseitig und die ganze Welt an der Nase herumführen, ist inzwischen aber auch an der Börse ein Thema. Einen kalten Krieg will die Börse nicht verdauen müssen, zumal der amtierende US-Präsident aussenpolitisch wenig ambitioniert scheint und im Wahljahr nur noch seinen Abgang verwaltet.

Zinswende ade, Börsenhausse wohl auch
Schon vor dem Abschied Obamas aus dem Weissen Haus hat die Zinswende den ihren genommen. Die 10-jährigen US-Zinsen haben wieder die 2% Marke nach unten durchbrochen und die sich global noch im Dezember 2015 endlich abzeichnende Miniwende am langen Ende der Zinskurve ist schon wieder Vergangenheit. Der Markt rechnet mittlerweile für die USA mit überhaupt keinem Zinsschritt mehr 2016, eine Einschätzung, die angesichts der anstehenden Wahlen recht realistisch ist.

So wird sich auch im weltweiten Zinsgefüge wenig bewegen, was die Aktie als Anlageklasse einmal mehr alternativlos erscheinen lässt. Fragt sich nur, zu welchem Preis. Darüber sind sich die Märkte noch nicht im Klaren. Es gibt durchaus Investoren, die die heutigen Kursniveaus als günstige Einstiegslevels interpretieren, aber auch solche, die den Markt nach wie vor als zu teuer ansehen, vor allem, wenn sich die Konjunkturängste materialisieren sollten. Da auch bei konstruktiver Grundhaltung gegenüber Aktien das Aufwärtspotenzial offensichtlich beschränkt ist – zumindest fürs Erste, ist ein Einstieg jetzt kein guter Rat. Viele haben den Börsenzug von 2009 verpasst oder zu spät bestiegen und würden gern auf den nächsten aufspringen. Diese müssen aber Geduld haben, bis sich das flächendeckende Tief über den Finanzmärkten verzogen hat, was länger als ein Jahr dauern kann. Denn 2016 gibt es schon jetzt viel zu verarbeiten und es bleibt zu hoffen, dass nicht noch etwas hinzukommt.  (Raiffeisen/mc/ps)

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