Swiss FinTech Report 2016: Die Schweiz als FinTech-Standort
Adrian Widmer, Partner bei EY Financial Services Schweiz und Sponsor des Swiss FinTech Report 2016.
Zürich – Digitalisierung steht ganz oben auf der Tagesordnung vieler Unternehmen. Branchenübergreifend werden die Auswirkungen auf die zugrunde liegenden Geschäftsmodelle, die Organisation und die Mitarbeitenden erwogen. Einige Branchen haben die Bedeutung des Themas früh erkannt und eine Führungsrolle übernommen. Die Finanzdienstleistungsbranche hat hingegen Aufholbedarf. Während die Anzahl Startups, Vereinigungen und Konferenzen im FinTech-Bereich neue Sphären erreicht, konzentriert sich der Schweizer FinTech-Bericht 2016 von EY und der Swiss Finance + Technology Association auf die wohl mit Abstand wichtigste Frage für Startups: die Finanzierung.
Der Bericht beruht auf Interviews mit aussergewöhnlichen Unternehmern in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung – sowie mit einem der grössten Rückversicherer weltweit.
Die Einzigartigkeit der Schweiz als Finanzzentrum – vom Winde verweht?
«Mit dem Bankgeheimnis hat die Schweiz als Finanzzentrum ein hervorragendes Alleinstellungsmerkmal verloren. Deshalb ist es nun wichtig, die Zukunft der Branche zu sichern und eine aktive Rolle bei der Umgestaltung der Finanzdienstleistungsindustrie zu übernehmen», meint Adrian Widmer, Partner bei EY Financial Services Schweiz und Sponsor des Swiss FinTech Report 2016.
Seit Langem kämpfen die führenden Finanzzentren erbittert um die Vormachtstellung – ein Kampf, der vom jährlichen Global Financial Center Index (GFCI)1 abgebildet wird. Vor Kurzem musste New York den Spitzenplatz an London abtreten. Die Schweiz verfügt ebenfalls über zwei Städte mit sehr gutem Rating. Zürich befindet sich derzeit auf Platz 7 (zweithöchstes Ranking in Europa nach London). Gegenüber dem Vorjahr hat die Limmatstadt vier Punkte in der Gesamtbewertung und einen Platz im Ranking eingebüsst. Genf schaffte erneut den Sprung auf Platz 13 mit einer um fünf Punkte höheren Gesamtbewertung. Die Schweiz kann also weiterhin hervorragende Rankings vorweisen, doch die rasch wachsenden Zentren in den Schwellenmärkten stellen eine zusätzliche Herausforderung dar. Singapur beispielsweise liegt auf Platz 4, konzentriert sich stark auf den Bereich Vermögensverwaltung und dürfte in Zukunft an Bedeutung gewinnen.
Die Schweiz als Innovationshort
Innovationen in der Finanzdienstleistungsbranche sind eine Chance für die Schweiz, mit denen die negativen Auswirkungen infolge der Abschaffung des Bankgeheimnisses aufgewogen werden können. Die hohe Innovationskraft ist ein schlagendes Verkaufsargument für den Finanzplatz Schweiz. Um die aktuellen Stärken der Schweiz hervorzuheben und die neusten Herausforderungen anzugehen, müssen Marktbedingungen geschaffen werden, die Startups, Unternehmen und Investoren motivieren und unterstützen. Zudem gilt es, Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Finanzzentren wie London, Singapur und New York klar herauszustreichen und zu kommunizieren.
Insgesamt sind die im Rahmen dieses Berichts befragten Mitarbeitenden von Finanzinstitutionen – deren Auswahl auf Basis ihrer Finanzstärke und Entwicklung sowie ihrer geografischen Lage und ihrem internationalen Ruf erfolgte –, zum Schluss gekommen, dass die Schweiz von ihrer Position als Finanzzentrum in Europa noch nicht in vollem Umfang profitiert hat.
Als besondere Stärken der Schweiz wurden Know-how und Bildung sowie wirtschaftliche und politische Stabilität genannt. Als Schwächen wurden die hohen Mieten, Löhne und Lebenskosten angeführt, und auch die Cash-Burn-Rate wird als eher unvorteilhaft betrachtet.
Gemäss dem Cost of Living Index 20152 befinden sich sieben der zehn teuersten Städte in der Schweiz. Dies impliziert, dass die Schweiz bei weitem das teuerste Land der Welt ist. London und New York sind in diesem Index ebenfalls unter den Top-25 aufgeführt, und zwar auf den Plätzen 15 und 22. Singapur liegt auf Platz 47 und bietet in dieser Hinsicht ein freundlicheres Umfeld für Startups.
Zweitens ist in der Schweiz keine spezifische Unterstützung erkennbar. Die Regierung und die Finanzinstitutionen befassen sich hauptsächlich mit Regulierungsfragen statt mit Innovation.
Drittens wird in der Schweiz als führendes Offshore-Vermögensverwaltungszentrum viel Geld gelagert und trotzdem fehlen den FinTech-Unternehmen die Finanzierungsmöglichkeiten. Die Schweiz verfügt über hohe Bargeldbestände, die für Investitionen verwendet werden könnten. Doch befindet sich der Markt für Risikokapital und Inkubator-Aktivitäten noch in den Kinderschuhen. Das Land hat für Startups insgesamt nur gerade rund ein Drittel des Risikokapitals von London aufgebracht.
Zudem haben bisher weder die Schweizer Regierung noch die etablierten Finanzinstitute Interesse an einer finanziellen Unterstützung angemeldet. Im Jahr 2014 wurden ungefähr CHF 470 Millionen an Risikokapital in Schweizer Startup-Unternehmen investiert. Das sind immerhin 10 Prozent mehr als im Vorjahr.3
Von dem insgesamt investierten Kapital von rund CHF 470 Millionen flossen 78 Prozent in den Bereich Life Science, darunter Startups der Sparten Medtech, Biotech und Healthcare IT. Startup-Unternehmen aus dem Bereich Information, Communication and Technology (ICT) erhielten nur CHF 86,3 Millionen4, also nicht einmal ein Fünftel der gesamten Investitionen. Und der Betrag ist mit jedem Jahr kleiner geworden. Im Jahr 2012 hat sich die Unterstützung noch auf CHF 123,8 Millionen belaufen. Grund dafür sind fehlende Grossinvestoren in der frühen Phase der Startup-Gründung in diesem Sektor.
Was tut sich heute bereits im Schweizer FinTech-Bereich?
Eine der grössten Schweizer Banken hat bereits Innovationslabors in Europa und Asien lanciert und hat kürzlich eine P2P (peer-to-peer)-Anwendung für mobiles Bezahlen eingeführt. Manche Schweizer Regionalbanken, wie beispielsweise die Glarner Kantonalbank, haben im Januar 2015 eine ETF-Plattform für Investitionen ab CHF 5 000 lanciert. Die Basellandschaftliche Kantonalbank ihrerseits hat eine P2P-Crowdfunding-Plattform namens «miteinander erfolgreich» vorgestellt.
Die SIX Group hat ihren FinTech-Inkubator «F10» eröffnet, derweil die PostFinance, das Finanzdienstleistungsunternehmen der Schweizer Post, die Smartphone-App Twint für die mobile Bezahlung einführt. Nicht nur Banken, sondern auch Versicherungsunternehmen haben begonnen, darüber nachzudenken, wie sie von der FinTech-Dynamik profitieren können, die sich auch in der Schweiz immer stärker profiliert. Swiss Life beispielsweise hat eine digitale Kundenplattform für ihre Kunden und Broker lanciert. Eine weitere Schweizer Versicherungsgesellschaft zeichnet jedes Jahr Startups für innovative Ideen und Businessmodelle aus und bietet spezifische Software, eine kostenlose Online-Rechtsberatung und Startup-Workshops an.
Der steigende Konkurrenzdruck. London, New York und Singapur
In London werden Regierung und Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörde als äusserst kooperativ wahrgenommen. Sie bieten Startups sogar steuerliche Anreize und andere Hilfen. London ist zudem das führende Vermögensverwaltungszentrum und weist aufgrund einer grossen Anzahl an privaten Geldern im Allgemeinen eine hohe Verfügbarkeit von Finanzmitteln auf. In London ist die Verfügbarkeit von finanziellen Ressourcen für FinTech-Unternehmen im Vergleich zum restlichen Europa viel höher.
Insbesondere haben private Finanzierungen deutlich zugenommen. In den ersten neun Monaten des Jahres 2015 überstieg das in Londoner FinTech-Unternehmen investierte Risikokapital (USD 554 Millionen) bereits das gesamte Investitionsvolumen in FinTech aus dem Vorjahr (USD 467 Millionen).5 Alle diese Faktoren ziehen zusätzlich Accelerators und Inkubatoren an, die der Londoner FinTech-Industrie weiteren Auftrieb verleihen. Obwohl das Leben in London sehr teuer ist, haben Stadt und Regierung es geschafft, durch ein unternehmerfreundliches Umfeld, gute Angebote und diverse Vorteile grossartige Startup-Firmen anzuziehen. Die Stadt zeigt sich in puncto Regulierung ebenfalls sehr unterstützend und ist neuen Geschäftsmodellen im Finanzsektor gegenüber offen.
Wie London ist auch New York eine sehr attraktive Stadt. Die hohe Verfügbarkeit von Finanzierungsmöglichkeiten ist der Hauptgrund, weshalb die Metropole nach London als weltweit zweitwichtigste Drehscheibe für FinTech-Startups angesehen werden sollte. Auch in New York sind die Lebenskosten hoch, aber die Stadt bietet – genau wie London – leichten Zugang zu qualifizierten Fachkräften, da New York Sitz vieler etablierter Institute mit entsprechendem Know-how ist.
Auch die US-Regierung unterstützt das Unternehmertum und versucht, gewisse regulatorische Anforderungen zu ändern, um dadurch Prozesse zu vereinfachen und bestehende rechtliche Rahmenbedingungen zu ändern – wenn auch nicht ganz so ausgeprägt wie in Grossbritannien. New York ist einer der grössten Cluster der Welt: Der Transaktionswert stieg zwischen 2013 und 2014 um 32 Prozent auf ein neues Rekordhoch von USD 768 Millionen.6 Der Big Apple ist somit der am schnellsten wachsende Hotspot in den USA.
Der Stadtstaat Singapur bietet ein durchschnittliches unternehmerisches Umfeld, ist aber trotzdem in einer guten Position, da die Regierung und die Finanzinstitutionen relativ viel Unterstützung anbieten. Singapur ist vor allem für reifere Startups in einer späteren Finanzierungsphase interessant. Zwischen 2011 und 2015 flossen daher auch nur USD 67 Millionen in lokale Startup-Unternehmen, die sich in der Anfangsphase befinden. Singapur hat einen Boom an Accelerators erlebt. Accelerator-Betreiber auf der ganzen Welt nehmen die Gelegenheit wahr, um von der aufstrebenden südostasiatischen Startup-Szene zu profitieren.
Positiver Ausblick für die Schweiz trotz Ende des Bankgeheimnisses
Zur Zukunft der Schweiz als Finanzzentrum meint Bernhard Schneider, Senior Manager bei EY Financial Services Schweiz: «Der Schweizer Finanzplatz hat in den letzten Jahren aufgrund der Finanzkrise und der Aufhebung des Bankgeheimnisses einen tief greifenden Wandel durchgemacht. Während sich Tradition und Stabilität als beständige Werte erwiesen haben, besteht ein klarer Bedarf, eine aktivere Rolle bei der Umgestaltung von Finanzdienstleistungen zu übernehmen. Die Schweiz befindet sich angesichts ihrer Wissensressourcen,
Innovationsmöglichkeiten sowie ihrer wirtschaftlichen und geopolitischen Lage in einer einzigartigen Position. Allerdings muss sich der Finanzplatz Schweiz dringend neu erfinden, um den gegenwärtigen und kommenden Herausforderungen zu begegnen. FinTech wird hier eine führende Rolle spielen.»
John Hucker, Präsident der Swiss Finance + Technology Association, empfiehlt Folgendes: «Indem das grosse Potenzial in der Schweiz noch besser genutzt wird und finanzielle Mittel, Möglichkeiten zur Vernetzung an Konferenzen sowie zusätzliche Initiativen geboten werden, können Schweizer FinTech-Startups die Chancen, die sich ihnen bieten, nutzen und auf der langjährigen Tradition der Schweiz als Innovationsführer und zentrale Drehscheibe der weltweiten Finanzdienstleistungsbranche aufbauen.»
1 http://www.zyen.com/research/gfci.html
2 http://www.numbeo.com/cost-of-living/rankings.jsp
3 Swiss Venture Capital Report, startupticker.ch, Swiss Finance Equity & Corporate Finance Association, Januar 2015
4 Eine eindeutige Zuordnung der Investitionen im FinTech-Bereich ist kaum möglich.
5 http://www.reuters.com/article/london-partners-idUSnBw076076a+100+BSW20151007
6 http://www.fintechinnovationlabnyc.com/media/830595/FinTech-New-York-Partnerships-Platforms-Open-Innovation.pdf
Über die globale EY-Organisation
Die globale EY-Organisation ist eine Marktführerin in der Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung, Transaktionsberatung und Rechtsberatung sowie in den Advisory Services. Wir fördern mit unserer Erfahrung, unserem Wissen und unseren Dienstleistungen weltweit die Zuversicht und die Vertrauensbildung in die Finanzmärkte und die Volkswirtschaften. Für diese Herausforderung sind wir dank gut ausgebildeter Mitarbeitender, starker Teams sowie ausgezeichneter Dienstleistungen und Kundenbeziehungen bestens gerüstet. Building a better working world: Unser globales Versprechen ist es, gewinnbringend den Fortschritt voranzutreiben – für unsere Mitarbeitenden, unsere Kunden und die Gesellschaft.
Die globale EY-Organisation besteht aus den Mitgliedsunternehmen von Ernst & Young Global Limited (EYG). Jedes EYG-Mitgliedsunternehmen ist rechtlich selbstständig und unabhängig und haftet nicht für das Handeln und Unterlassen der jeweils anderen Mitgliedsunternehmen. Ernst & Young Global Limited ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach englischem Recht und erbringt keine Leistungen für Kunden. Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website: www.ey.com.
Die EY-Organisation ist in der Schweiz durch die Ernst & Young AG, Basel, an zehn Standorten sowie in Liechtenstein durch die Ernst & Young AG, Vaduz, vertreten. «EY» und «wir» beziehen sich in dieser Publikation auf die Ernst & Young AG, Basel, ein Mitgliedsunternehmen von Ernst & Young Global Limited.
Über die Swiss Finance + Technology Association
Die Swiss Finance + Technology Association ist eine unabhängige, mitgliederbasierte Vereinigung, die in der Schweiz eine Drehscheibe im Bereich FinTech werden will. Unsere Mitglieder sind Einzelpersonen, die in Verbindung zum Schweizer FinTech-Ökosystem stehen. Die Gruppe wird ehrenamtlich geführt und geht aktiv auf Partner zu (d. h. Unternehmen, Vereinigungen, Regierung usw.), um ihre Ziele zu verfolgen. Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website: www.swissfinte.ch.