Frank Bodin: Die Kreativität ist tot. Es lebe die Kreativität!

Frank Bodin: Die Kreativität ist tot. Es lebe die Kreativität!

Frank Bodin, CEO Havas Worldwide Zürich/Genève und Havas Digital

Der folgende Beitrag ist anlässlich des 65-Jahr-Jubiläums des SWA Schweizer Werbe-Auftraggeberverband erschienen.

Von Frank Bodin

«Creativity is King», sagen die Werbeauftraggeber. Dabei wurden Könige in der Schweiz längst abgeschafft. Und das Ende der Werbung wurde auch schon prophezeit. Ergo naht auch das Ende der Werbeauftraggeber.

Die Datenauftraggeber
Neu müsste es Datenauftraggeber heissen. Daten sind das neue Öl. Oder gar das neue Wasser. Im Jahr 2000 wurde der genetische Code des Menschen entschlüsselt. Nun ist das menschliche Verhalten dran: Mit Daten wird man menschliches Verhalten schon sehr bald nicht nur perfekt analysieren-, sondern sogar voraussagen können. Der Mensch ist gläsern, transparent, quasi selbstauflösend. Privatsphäre war einmal. Menschsein war einmal. Clevere Programme wissen mein Programm bevor ich es weiss. IT-Spezialisten sind die neuen Wahrsager. Sie lesen mir meine Bedürfnisse von meinem Verhalten ab. Denken wird ausgelagert. Und mit dem Denken die Kreativität. Der Mensch gefangen in der Unendlichschlaufe seines Algorithmus. Eine Welt des permanenten Scorings. Eine Welt, die Qualität nur noch danach bemisst, wie oft geklickt, geliked und geteilt wird. Ist das wirklich die neue Welt, wie wir sie wollen?

«Freiheitskampf gegen Google»
Erst kürzlich hat Mathias Döpfner, Verlagschef Axel Springer, öffentlich zum «Freiheitskampf gegen Google» aufgerufen. Werbeauftraggeber und Werbeagenturen tun gut daran, sich an dieser Debatte zu beteiligen statt nur die Partys von Google in Cannes zu besuchen (die Google-Party anlässlich der Cannes Lions – der heilige Olymp der Werbung – war unübersehbar). Dabei geht es nicht nur um eine Medien- und Marketing-Debatte, sondern vor allem auch um eine gesellschaftsethische Auseinandersetzung.

Beginnen wir mit dem Marketing: Aus Marketingsicht geht es um zwei Modelle, die sich scheinbar diametral gegenüberstehen. In der «alten Welt» herrscht das Gesetz der Umfeldplanung. Werbung wird dort geschaltet, wo sie ihre bevorzugte Zielgruppe in einem adäquaten Umfeld am besten erreicht. In der «neuen Welt» wird Werbung mittels Big Data individuell geschaltet – jeder User erhält nur noch die Werbung, die ihn gemäss Datenanalyse interessiert. Unternehmen kaufen Zielgruppen ein: War Werbung bislang meist monologisch, ist sie nun dialogisch. Statt mit Werbebotschaften zu nerven, soll mit den Menschen in einen Dialog getreten werden. Daran ist viel Gutes, aber die Fantasie brennt mit den Jüngern der Internet-Generation auch durch. Es lohnt sich, nebst den Stärken auch die Schwächen der neuen Welt zu erkennen. Die allerwenigsten User beteiligen sich in sozialen Medien wirklich aktiv mit Posts und Kommentaren. Ein Gefällt-mir-Klick ist noch lange nicht dialogisch und sagt nichts über Erfolg oder Misserfolg einer Kampagne aus. Der Chilenische Philosoph Vilém Flusser prophezeit «Der neue Mensch fingert, statt zu handeln.» Überhaupt sind soziale Medien nicht wirklich sozial (es sollte eher «Asoziale Medien» heissen) und auch nicht dialogisch.

Dialog bedeutet Auseinandersetzung. Dazu gehört Zustimmung wie Ablehnung. Auf Facebook gibt es die Möglichkeit eines Gefällt-mir-Klicks, also nur Zustimmung. Eine profunde Diskussion findet nur sehr selten statt. Freunde sind nicht wirklich Freunde, sondern lose Bindungen. Das Gleiche gilt auch für Unternehmen, die sich unter die «Freunde» mischen wollen. Die anonyme Kommunikation, die durch das digitale Medium gefördert wird, baut den Respekt massiv ab. Auch den Respekt gegenüber Marken. Byung-Chul Han folgert richtig «Sprache und Kultur verflachen sich. Sie werden vulgär.» Das ist das Gegenteil davon, was Marketing will, nämlich die langfristige Pflege und Stärkung von Marken in einem qualitativ adäquaten Umfeld. Soziale Medien fördern die Gleichschaltung von Kommunikation.

Schwarmdummheit
Konformismuszwang herrscht. Alle reden von Schwarmintelligenz, dabei sollten wir uns vor der Schwarmdummheit in Acht nehmen. Katzenbilder, Food-Porn und ähnliche Unsäglichkeiten dominieren. Die Schweizer Instagram-Hitparade mit den meisten Followern bestätigt das Mittelmass: Mittelmässige Landschaftsaufnahmen scheinen am populärsten zu sein. Facebook ist kein Dialog-Kanal, darum vermarktet sich Facebook auch lieber als Reichweitenkanal. Da stellt sich für den Marketer die Frage, ob er mit seiner Marke wirklich in diesem Umfeld präsent sein möchte. Für einige mag dies attraktiv sein, für einige aber auf keinen Fall. Facebook und Co. sind eine willkommene zusätzliche Möglichkeit Zielgruppen zu erreichen, aber nur eine zusätzliche. Der entscheidende Punkt: Das Interesse der Menschen an Werbung ist begrenzt. Der Wunsch mit Marken zu kommunizieren statt mit Freunden und Bekannten ist begrenzt. Das Bedürfnis, Botschaften von Unternehmen zu erhalten statt von unabhängigen Medien ist begrenzt. Auch sollten wir darüber nachdenken, wie es möglich ist, dass Google im Jahr 2013 einen Umsatz von 59,8 Milliarden Dollar erzielte (der grösste Teil des Ertrages stammt aus dem Werbegeschäft) und kein einziger Werbeauftraggeber weiss, wie der Google-Algorithmus tatsächlich funktioniert. Wie kann es kommen, dass Werbeauftraggeber, welche bei der Zusammenarbeit mit ihren Kreativ- und Mediaagenturen jeden Werbefranken hinterfragen, Google derart blind vertrauen?

Willenlose Kauf- und Konsummaschinen
Marketingkommunikation heute bedeutet eine unternehmerische und gesellschaftliche Verantwortung. Das führt zur gesellschaftsethischen Debatte: Sollen die Konsumenten zu willenlosen Kauf- und Konsummaschinen reduziert werden, die ich digital auf Schritt und Tritt mit meinem vermeintlich passendem Angebot verfolge? – Nein. Die Kunst des Marketing besteht nicht darin, dem Menschen genau dann ein Auto anzubieten, wenn er eines kaufen will, sondern ihn bereits viel früher zu gewinnen, damit er beim Kauf dann an eine bestimmte Marke denkt und sie präferiert. Es gibt viele Dinge im digitalen Marketing, die Sinn machen, funktionieren und grossartig sind. Auf die physische Welt (die fälschlicherweise oft als «alte Welt» bezeichnet wird) verzichten kann man dabei nicht. Die «neue Welt» ist eine grossartige zusätzliche Dimension, die auf der realen, vermeintlich alten Welt aufbaut und nicht entkoppelt funktionieren darf: Daten sind nur Ermöglicher, Mittel zum Zweck. Man darf die Technologie nutzen. Aber die Technologie darf mich nicht benutzen. Da tragen Marketer und Werber ebenfalls eine Verantwortung.

Der Mensch bleibt unberechenbar
Die Analyse von Big Data gibt Verhaltensmuster zu erkennen, die auch Prognosen möglich machen. Byung-Chul Han bringt es auf den Punkt: Kausalität bzw. die Frage «Wieso» erübrigt sich, wenn die Daten «Es-ist-so» sagen. Theorie wird dadurch überflüssig. Marketing ebenfalls. Das hat zwei Haken: Erstens ist es gefährlich, einem Algorithmus blind zu vertrauen (was ist, wenn «Es-ist-so» nicht so ist?) und zweitens, entsteht aus dem «Es-ist-so» nichts Neues. Aber Menschen lechzen nach Neuem – darum löst ein Trend den anderen ab. Technologie war noch nie die Lösung. Sie ist ein Werkzeug, nicht mehr nicht weniger. Die Lösung sind Ideen. Der Mensch bleibt unberechenbar. Auch für die schlauesten Computer. Ohne die richtige Idee gekoppelt an das tiefe Verständnis für die Wünsche und Gefühle der Menschen verpufft jede Kampagne. Die Kunst bleibt es, Marken-Loyalität jenseits jeglicher Logik und Vernunft zu schaffen.

Kommunikationsideen sind der Kern der Kreativagenturen. Kreativagenturen sind bis heute die einzigen Unternehmen, welche die notwendige Kultur schaffen können, um Kommunikationsideen zu entwickeln, welche die Menschen verführen, berühren, bewegen, gewinnen. Die Beratungsunternehmen haben’s versucht. Die Mediaagenturen haben’s versucht. Die IT-Agenturen versuchen’s. Mit wenigen Ausnahmen gelingt es niemandem. Auch Google nicht. Voraussetzung für diese Kultur sind ein raffinierter Mix aus Intelligenz, Unangepasstheit, Verantwortung, Menschlichkeit und Freude.

Kreativität ist immer unlogisch
Kein Wunder, dass Google und Facebook den Schulterschluss mit den Kreativagenturen suchen. Sie wollen den Werbern nicht nur beibringen wie die Internet-Werbung auszusehen hat. Sie wollen auch von den Werbern lernen, wie Werbung funktioniert. Werbung ist nämlich auf den ersten Blick unlogisch. Kreativität ist vorher immer unlogisch (sonst käme jeder drauf). So unlogisch wie Menschen sein können. So unlogisch wie nur Fantasie sein kann. Daten können das nicht. Daten entspringen einer Box und sind nicht out of the box.

Wir befinden uns derzeit in einem Rauschzustand. Die Vergangenheit verblasst und die Zukunft ist unscharf. Ich bin ein Fan von den neuen Möglichkeiten mittels Big Data. Aber ich weiss dabei auch, dass Big Data ohne Big Idea ins Nichts führt. Die Zukunft gehört denjenigen «Werbe- und Datenauftraggebern», denen es gemeinsam mit ihren Agenturen gelingt, Kreativität und die neuen Möglichkeiten, welche Daten liefern, geschickt zu verknüpfen – ich nenne das «Creative Data». Dazu gehört das Wissen, sowohl Off- wie Onlinemedien zu beherrschen. Diejenigen, welche das Talent besitzen, IQ, EQ und TQ (technischer Quotient) miteinander zu verbinden und daraus neue Ideen zu generieren, werden das Geschäft dominieren.

Rücksicht
«Creativity is King», sagen die Werbeauftraggeber. Königen tritt man mit einem gewissen Respekt gegenüber. Respekt heisst wörtlich Zurückblicken – Respekt ist eine Rücksicht und bedingt eine gewisse Distanz. Wir sind in einem Zeitalter der Respektlosigkeit. Insofern stimmt mich das Jubiläumsmotto der Werbeauftraggeber verheissungsvoll. Respekt vor Kreativität. Respekt vor Ideen. Respekt vor den Menschen, welche diese Ideen kreieren. Respekt, Qualität anständig zu honorieren (die Werbeausgaben steigen seit Jahren, während die Honorare der Agenturen sinken) und in frische Ideen und aussergewöhnliche Umsetzungen zu investieren (das Mittelmass in den sogenannten Qualitätsmedien ist derzeit leider auch bei der Werbung unübersehbar). Respekt vor den Konsumentinnen und Konsumenten, die man nicht zu jedem Preis für blöd verkaufen will. Das sind gute Grundlagen für gute Resultate und für eine verheissungsvolle Zukunft in einer sich dramatisch verändernden Welt.
La créativité est morte, vive la créativité!

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