WEF: Gauck geisselt mangelnde Solidarität in Flüchtlingskrise
Bundespräsident Joachim Gauck. (Foto: WEF/swiss-image.ch/Monika Flueckiger)
Davos – Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos die Flüchtlingspolitik Deutschlands und der EU als «kluges politisches Handeln» verteidigt. Scharfe Kritik übte er hingegen an der mangelnden Solidarität osteuropäischer Staaten.
In seiner Rede vor der WEF-Vollversammlung am Mittwoch war Gauck bemüht, möglichst wenigen auf die Füsse zu treten. Mit ausgewählten Worten warb er vor allem um Verständnis – Verständnis für die Sorgen der Bevölkerung, Verständnis für die deutsche Flüchtlingspolitik, Verständnis für die Bemühungen der EU, die Einwanderung nach Europa zu kontrollieren.
EU in ihren Grundfesten bedroht
Verständnis äusserte er zunächst gar darüber, dass in den Ländern Mittel- und Osteuropas die Angst vor Veränderung und die Sorge um die nationale Identität besonders gross seien. Dann fand sein Verständnis jedoch ein Ende: Denn er könne nur schwer verstehen, wenn «ausgerechnet Länder Verfolgten ihre Solidarität entziehen, deren Bürger als politisch Verfolgte einst selbst Solidarität erfahren haben», sagte Gauck, ohne die Staaten beim Namen zu nennen.
Das Ausscheren dieser Länder bedrohe gar die Grundfesten der Europäischen Union. «Wollen wir wirklich, dass das grosse historische Werk, das Europa Frieden und Wohlstand gebracht hat, an der Flüchtlingsfrage zerbricht? Niemand, wirklich niemand, kann das wollen», warnte Gauck.
Offene Debatte über Begrenzung
Gauck verteidigte vor Politikern, Wirtschaftsführern und Experten aus aller Welt zugleich die Aufnahme Deutschlands von rund einer Million Flüchtlingen im vergangenen Jahr. Viele von jenen, die von aussen auf Deutschland geblickt haben, hätten die Haltung zahlreicher Deutscher «als Gefühlsüberschwang oder Naivität» empfunden.
Gauck mahnte eine offene Debatte darüber an, wie viele Flüchtlinge Deutschland noch aufnehmen kann. «Für Aufnahmefähigkeit gibt es keine magische mathematische Formel», sagte Gauck. «Das Mass unterliegt vielmehr einem permanenten Aushandlungsprozess in Gesellschaft und Politik.» Und wenn nicht Demokraten über Begrenzungen reden wollten, würde Populisten und Fremdenfeinden das Feld überlassen.
Nicht nur eine moralische Pflicht
Der 76-jährige Pastor war deshalb bemüht, die Aufnahme von Flüchtlingen nicht nur als moralische Pflicht darzustellen. «Europa erlebt eine gewaltsam erzwungene Migration», sagte Gauck. Die Aufnahme von Flüchtlingen sei ein Gebot humanitärer Verantwortung, bei der Nützlichkeitserwägungen keine Rolle spielen dürften.
Die Politik müsse das Interesse der Bürger am Fortbestand eines funktionierenden Gemeinwesens mit dem humanen Ansatz verbinden, Schutzbedürftigen zu helfen. Das könne bedeuten, dass Politik «Begrenzungsstrategien entwickeln und durchsetzen muss – nicht als reflexhafte Abwehr, sondern als Element verantwortungsbewussten Regierungshandelns», sagte Gauck.
Eine Begrenzungspolitik könne moralisch und politisch sogar geboten sein, um die Handlungsfähigkeit eines Staates aufrechtzuerhalten und eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen zu ermöglichen. «Begrenzung sei nicht per se unethisch. Begrenzung hilft, Akzeptanz zu erhalten.» (awp/mc/pg)