Rückblick 2015: VWs ‹Annus horribilis›
Tempi passati: Der ehemalige VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch (l.) und der ehemalige Vorstandschef Martin Winterkorn.
Wolfsburg – Das denkmalgeschützte VW-Hochhaus in Wolfsburg mit dem riesigen Logo ist eingerüstet: Eine dringend nötige Sanierung macht die 1958 errichtete Konzernzentrale zu einer Grossbaustelle, seit Monaten. Unfreiwillig wird das 73 Meter hohe Gebäude damit zu einem Symbol für die schwerste Krise in der Konzerngeschichte. 2015 war für Volkswagen ein «Annus horribilis» – ein schreckliches Jahr. «Unser Ruf ist jetzt erstmal ruiniert», wird im Konzern zähneknirschend die Situation zum Jahresende bewertet. Eine Aussage, die vor einem Jahr noch mehr als unvorstellbar war. Denn lange Zeit kannte das Selbstbewusstsein in Wolfsburg keine Grenzen.
2015 hat in der VW-Welt alles verändert. Und es brachte ein neues Wort: «Dieselgate». Das klingt nach «Watergate», der Affäre, die am Ende den US-Präsidenten Richard Nixon zu Fall brachte. Drunter geht es bei VW nicht. Der Mythos des grössten deutschen Industriekonzerns, des Erbauers von «Käfer» und «Golf», ist schwer beschädigt.
Wachsen um jeden Preis
Dabei fing das Jahr gut an. Im Januar verkündet der Konzern stolz, erstmals die Marke von zehn Millionen verkauften Fahrzeugen geknackt zu haben. VW ist damit nur noch hauchdünn hinter Weltmarktführer Toyota zurück. Die Japaner sind als Branchenführer der Erzrivale, VW will den Thron als weltgrösster Autokonzern – so sieht es die «Strategie 2018» vor. Aufgestellt hat sie Martin Winterkorn, der langjährige VW-Vorstandschef. Zur «Strategie 2018» gehören noch andere Ziele: VW will auch das ökonomisch weltweit führende Automobilunternehmen werden – und das ökologischste.
600’000 Beschäftigte
Auf zwölf Marken ist das VW-Imperium seit Winterkorns Amtsantritt 2007 angewachsen, der Konzern hat weltweit mehr als 600 000 Beschäftigte – streng zentralistisch und hierarchisch aus Wolfsburg geführt. Und aus Salzburg, wo der mächtige VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch sein Büro hat. Zumindest bis Ende April haben damit bei VW zwei Männer das Sagen. Unangefochten stehen sie an der Spitze.
Beispielloser Machtkampf
Jetzt am Ende des Jahres haben sie längst ihre Posten verloren. Denn schon lange vor «Dieselgate» liefert VW der Öffentlichkeit im Frühjahr drei Wochen lang einen beispiellosen Machtkampf in der Führungsspitze. Auslöser sind sechs Worte von VW-Patriarch Piëch: «Ich bin auf Distanz zu Winterkorn», sagt er am 10. April dem «Spiegel», und löst damit ein mittleres Erdbeben in Wolfsburg aus.
Das über Jahre alles bestimmende Führungsduo Winterkorn und Piëch ist damit gespalten. Niemand kann sich vorstellen, dass dieser Riss je wieder repariert werden kann. Zu gross sind Piëchs Zweifel an seinem Ziehsohn Winterkorn. Mit der Expansion sind auch hausgemachte Probleme gewachsen. Dazu zählt neben der Ertragsschwäche der Kernmarke VW vor allem die Misere auf dem US-Markt, auf dem die Wolfsburger trotz aller Anstrengungen nur eine unbedeutende Rolle spielen. Zu wenig für das Weltmarktführer-Streben.
Piëch zieht den Kürzeren
Bislang hat «der Alte» noch jeden Machtkampf für sich entschieden. Dieses Mal aber zieht er den kürzeren. Eine Allianz aus dem Land Niedersachsen und dem bei VW mächtigen Betriebsrat stützt Winterkorn. Und auch sein Cousin Wolfgang Porsche wendet sich von Piëch ab. Hinter den Kulissen fliegen die Fetzen, alte Rechnungen werden beglichen, Krisensitzungen gehen praktisch nahtlos ineinander über. Dem 78-jährigen Piëch bleibt nur der Rücktritt – das Ende einer Ära.
Abgastests manipuliert
Winterkorn sitzt danach fest im Sessel, der Vertrag des 68-Jährigen soll sogar verlängert werden. Der Vorstandschef will den Konzern nun reformieren. Marken und Regionen sollen mehr Verantwortung bekommen. Und VW muss stärker auf die beiden wichtigsten Zukunftstrends setzen: alternative Antriebe und den digitalen Wandel mit immer mehr Internet im Auto. «Immer höher, schneller, weiter reicht nicht. Technologische Führerschaft definiert sich nicht mehr nur über PS und Drehmoment», sagt Winterkorn im September zum Auftakt der Leitmesse IAA.
Kurz danach platzt die Bombe. Es ist der 18. September. US-Behörden werfen VW vor, massiv gegen Klimaschutzregeln verstossen zu haben. Der Autobauer soll mit einer illegalen Software, einem «Defeat Device», Abgastests manipuliert haben, um die Grenzwerte beim Ausstoss des gesundheitsschädlichen Stickoxids (NOx) einzuhalten. Noch am selben Wochenende gibt Volkswagen die Vorwürfe zu.
Sauber, aber nicht zu teuer
Verglichen mit dem April-Beben sei der Diesel-Skandal eine «grosse Detonation», «eine Eruption» gewesen, heisst es rückblickend aus der Zentrale. Denn nun geht es nicht mehr um Namen und Posten. Die Zukunft des einstigen Branchenprimus scheint ins Wanken gekommen, sogar das Qualitätssiegel «Made in Germany» angekratzt zu sein. Wie konnte das passieren? In den Jahren 2005 und 2006 hat VW massive Absatzprobleme in den USA. Erzrivale Toyota mit seiner Hybridtechnik ist auf dem US-Markt viel erfolgreicher. VW will auf den Diesel setzen, auf einen sauberen: «Clean Diesel» lautet der Slogan. Die Wolfsburger Vorgabe lautet: Sauber, aber nicht zu teuer.
Doch das ist technisch für die Ingenieure nicht zu schaffen. Die USA haben strengere Stickoxid-Grenzwerte als Europa. Anders als in Europa ist der Selbstzünder in den USA als dreckig verschrien. Die Lösung ist am Ende so simpel wie verhängnisvoll: Dank einer versteckten Manipulations-Software können die Autos die Grenzwerte zumindest auf dem Prüfstand einhalten. «Diesel-Gate» ist geboren.
Winterkorn will von nichts gewusst haben
Winterkorn kämpft nach dem Platzen der Abgas-Bombe noch um sein Amt, will von allem nichts gewusst haben. In einem Video bittet er um Entschuldigung und verspricht schonungslose Aufklärung. «Ich gebe Ihnen mein Wort.» Doch der 68-Jährige macht einen fast hilflosen Eindruck. Schweissperlen stehen ihm auf der Stirn. Ein grosser Rhetoriker war er nie. Viele fragen sich, wer ihn da beraten hat.
Einen Tag später muss Winterkorn zurücktreten. Der wichtigste VW-Machtzirkel, das Präsidium des Aufsichtsrats, entzieht ihm das Vertrauen. Winterkorn übernimmt die Verantwortung für den Skandal, weist aber darauf hin, dass er sich keines Fehlverhaltens bewusst sei. Seitdem ist Winterkorn öffentlich abgetaucht. (awp/mc/pg)