Aberdeen AM: Denken wie ein Anfänger!
Joanne Gilbert, Spezialistin für Obligationenanlagen, Aberdeen Asset Management
Zürich – „Im Geist des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten gibt es nur noch wenige Möglichkeiten.“ Die berühmte Eröffnung des Buches Zen-Geist Anfänger-Geist, einer vor über vierzig Jahren erschienen Einführung in die Zen-Meditation, sollte jedem Anleger eingedenk sein.
Von Joanne Gilbert, Spezialistin für Obligationenanlagen, Aberdeen Asset Management
Wie ein Anfänger zu denken, ist eine unterschätzte Fähigkeit. Wir neigen dazu, bewundernd zu „Experten“ aufzuschauen, wir messen ihre Überlegenheit an der Tiefe ihres Wissens. Aber wirklich grosse Durchbrüche sind häufig Menschen zu verdanken, welche die Dinge einfach sehen, die ihre eigene Sichtweise haben, anstatt sich nach der gängigen Meinung oder auch dem gesunden Menschenverstand zu richten. Anfänger stellen Fragen, Anfängern stehen alle Möglichkeiten offen, während Experten denken, die Weisheit für sich gepachtet zu haben und sich neuen Möglichkeiten häufig von vornherein verschliessen.
Ikonische Persönlichkeiten, die wie Anfänger denken
Steve Jobs, der verstorbene Apple-Chef, schien in der grossen Zeit des Palm Pilot, der mit einem stiftähnlichen „Stylus“ bedient wurde, der Technologie etwas hinterherzuhinken. Was ging Jobs damals durch den Kopf? „Gott hat uns zehn Stifte gegeben“, sagte er und winkte mit den Fingern. „Warum sollen wir noch einen Finger erfinden?“ Dies war der Startschuss zum Navigieren per Touchscreen, so dass die Tech-Community alsbald – buchstäblich – zum Zeichenbrett zurückkehrte!
Die Geschichte ist voll von Beispielen für ikonische Persönlichkeiten, die wie Anfänger denken, so Sigmund Freud, der Pionier der Psychoanalyse, Martin Luther King, der US-Bürgerrechtler, Florence Nightingale, die viktorianische Begründerin der modernen Krankenpflege, oder Albert Einstein, der theoretische Physiker. Und bevor Sie jetzt einwerfen: „Aber Einstein hatte doch den Geist eines Experten“, sei darauf verwiesen, dass Einstein nur mit dem Geist eines Anfängers das Zwillingsparadoxon erdenken konnte, bei dem ein Zwilling auf der Erde bleibt, während der andere ins All fliegt und jünger als sein Bruder auf die Erde zurückkehrt!
Mexiko statt China
Unser Ansatz für Obligationenanlagen bedient sich dieser einfachen, aber effizienten Denkweise. Einige der Einschätzungen, die wir dabei in den vergangenen 12 bis 18 Monaten umgesetzt haben, sind vom „Geist des Anfängers“ geprägt.
Während sich der Rest des Marktes mit dem abgedroschenen Mantra von China als kostengünstigem Produktionsstandort zufrieden gab, haben wir Mexikos Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber China als Anlagethema aufgespürt. Mittlerweile ist Mexiko ein etablierter Billigproduzent, aber wir gehörten zu den ersten, die festgestellt haben, dass die Nominallöhne in Mexiko relativ gesehen niedriger sind, und dass das Land Potential zur Steigerung der ausländischen Direktinvestitionen besitzt. Seither hat die Regierung Arbeitsmarktreformen durchgeführt, die durch Verbesserungen am Arbeitsmarkt sowie die Förderung des Wettbewerbs und ausländischer Direktinvestitionen im Energiesektor die Wettbewerbsfähigkeit weiter steigern dürften.
Allokation auf asiatische Obligationen bleibt extrem niedrig
Der unaufhaltsame Aufstieg der asiatischen Mittelschicht ist eine hinreichend bekannte Story. Aber die meisten Investoren sehen Aktien als einzige Möglichkeit, an diesem Trend teilzuhaben. Die Allokation auf asiatische Obligationen bleibt extrem niedrig und steht in völligem Widerspruch zu Asiens Grösse und Einfluss als Wirtschaftsmacht. Wenn wir die Benchmarks ausser Acht lassen (in denen Asien unserer Auffassung nach unterrepräsentiert ist) und die asiatischen Obligationenmärkte an ihren glänzenden mittel- bis langfristigen Aussichten messen, dann werden wir die sich in der Region bietenden Anlagechancen optimal nutzen können.
BIP-gewichteter Benchmark
Eine andere einfache, aber gute Idee, die wir bei Anlagen an den internationalen Obligationenmärkten in die Praxis umgesetzt haben, ist eine BIP[1]-gewichtete Benchmark anstelle der herkömmlichen, nach Marktkapitalisierungen gewichtete Benchmark. Herkömmliche Indizes gewichten jedes in der Benchmark repräsentierte Land nach seinen umlaufenden Schuldtiteln. Ein BIP-gewichteter Index hingegen legt die Wirtschaftsleistung des jeweiligen Landes zugrunde. In der Praxis bedeutet dies eine geringere Exposure in Europa und Japan, der eine höhere Exposure in Asien, Lateinamerika und sonstigen Schwellenländerregionen gegenüber steht, die bessere Wachstumsaussichten und Erträge sowie eine niedrigere Verschuldung aufweisen.
Niemand hat ein Monopol auf Ideen
Der Geist eines Anfängers ist mittlerweile vielleicht wichtiger denn je, da ja die Vergangenheit, deren Ergebnisse eine wesentliche Richtschnur für Investoren sind, heute keinen Hinweis mehr auf zukünftige Ergebnisse liefert. Ganz gleich, ob es sich um negative Obligationenrenditen, extrem niedrige Zinsen oder die fast schon besorgniserregende Niedriginflation handelt, wir befinden uns auf Neuland. Auch wenn Investoren keine grossen Zen-Meister sind, weil sie sich zu leicht ablenken lassen, z.B. durch die Analyse einer Bilanz oder weil ihnen einfällt, dass sie auf dem Heimweg noch Milch kaufen müssen, sollten sie dennoch beherzigen, dass niemand ein Monopol auf Ideen hat. So seltsam es klingen mag, aber manchmal lohnt es sich wirklich, wie ein Anfänger zu denken.
[1] Geldwert aller Fertigerzeugnisse und Dienstleistungen, die in einem Land innerhalb eines bestimmten Zeitraums produziert werden, obwohl das BIP üblicherweise auf jährlicher Basis berechnet wird. Das BIP umfasst sämtliche privaten und öffentlichen Konsumausgaben, Staatsausgaben, Investitionen sowie die Exporte abzüglich der Importe, die in einem bestimmten Territorium erfolgen.