Journalismus unter der Diktatur der Reichweite
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Zürich – Unterhaltung, Gratis-Angebote und Infotainment bringen Reichweite und Werbegelder, der klassische Informationsjournalismus verliert. Damit verdrängt die Reichweite die Qualität. Bei den Gratisangeboten leidet die Qualität, weil sie nicht gepflegt werden muss, bei den Kaufangeboten leidet sie, weil sie immer weniger finanziert werden kann. Dadurch schrumpfen die Angebots-, die Akteurs- wie die Themenvielfalt. Die Widerstände gegen diese Entwicklung in der Branche sind gering, die Marktzwänge erscheinen ihr als Naturgewalten.
Im fünften Jahrbuch Qualität der Medien – Schweiz Suisse Svizzera stellen wir – neben den anhaltenden Verlusten der Werbe- und Kaufeinnahmen im Informationsjournalismus – die folgenden nachhaltigen Entwicklungen fest.
Unterhaltungsangebote profitieren ökonomisch
Die Werbeeinnahmen verschieben sich in zunehmendem Mass in Richtung Unterhaltungsangebote. Festzustellen ist weiterhin eine markante Zunahme der Werbeerlöse der Werbefenster ausländischer TV-Privatsender, während die Anteile des öffentlichen Fernsehens rückläufig sind. Auch private TV-Unterhaltungsangebote der Schweiz (z.B. 3+) haben einen grösseren Erfolg bei den Werbeeinnahmen als die privaten TV-Angebote mit Informationsjournalismus.
Während die Gratiskultur die Kaufbereitschaft für Informationsjournalismus gesenkt hat, wird Unterhaltung durch die Kaufbereitschaft des Publikums gestützt. Gemäss einer WEMF-Umfrage 2014 sprechen sich nicht weniger als 57% der Befragten grundsätzlich dagegen aus, für Zeitungen und Zeitschriften online zu bezahlen. Die Haushaltausgaben für Medien steigen, obwohl diejenigen für Informationsjournalismus sinken.
Reichweite verdrängt Qualität
Der Trend in Richtung Unterhaltungsangebote lässt sich auch innerhalb des Informationsjournalismus beobachten: Gratisangebote on- und offline, die auf rasch konsumierbares Infotainment setzen, weisen mit Abstand die grössten Reichweiten auf, werden mit überdurchschnittlich hohen Werbeeinnahmen belohnt und verdrängen dadurch die Kaufangebote mit klassischem Informationsjournalismus. Diese Entwicklung wird durch den wachsenden mobilen Medienkonsum verstärkt. Unterwegs werden wenig anspruchsvolle Medieninhalte bevorzugt.
Social Networks verstärken den Infotainment-Trend
Der Trend zur Unterhaltung wird auch durch die Social Networks verstärkt. Annähernd drei Viertel der im Jahr 2013 viral am meisten verbreiteten Beiträge sind Softnewsbeiträge. Zudem weisen jene Newssites die grössten Zugriffsraten aus den Social Networks auf, die auf Infotainment setzen.
Die Nutzer in den Social Networks betreiben eine vorwiegend gemeinschaftliche Kommunikation. Selbstdarstellung, das Sammeln von «Likes» und das Maximieren von Aufmerksamkeit im Netzwerk der «Friends» stehen im Zentrum. Deshalb werden moralisch-emotionale, unterhaltende oder skandalisierende Inhalte bevorzugt. Die starke Nachfrage nach Human Interest aus den Social Networks wird so zu einem Antagonisten des Hardnewsjournalismus.
Negativspiralen und Qualitätseinbussen
Die Qualitätserosion in der Medienarena hält aus den genannten Gründen an. Die meisten der untersuchten Medien weisen im Jahr 2013 tiefere Werte als im Vorjahr und die tiefsten Messwerte seit Beginn der Messung im Jahr 2010 auf. Bei den qualitätsniedrigen Informationsangeboten sinkt die Qualität weiter, weil sie bei den Gratisangeboten nicht nachgefragt wird. Bei den Informationsangeboten mit Qualitätsanspruch sinken unter dem Druck der Sparrunden, wegbrechender Einnahmen, der Klickratenorientierung und unter dem Aktualitätsdruck dagegen vor allem die Einordnungsleistungen. Aber auch Softnews werden bei Medien mit Qualitätsanspruch wichtiger, d.h. auch hier nimmt die Relevanz vor allem bei den Online-Newssites ab.
Erosion der journalistischen Berufskultur
Um Renditen im Informationsjournalismus aufrechtzuerhalten, erfolgt neben unaufhörlichen Sparrunden eine Industrialisierung und eine Marketingsteuerung der Newsproduktion. Redaktionen verlieren mitsamt ihren Ressortspezialisierungen an Bedeutung zugunsten neuer Werkhallen des Allroundjournalismus. Innerhalb der journalistischen Berufskultur regt sich zwar etwas mehr, insgesamt aber immer noch wenig Widerstand gegen diese Entwicklung.
«Medienhypes» und veränderte Resonanzchancen für politische Akteure
Neben der Abnahme der Einordungsleistungen und der Zunahme von Softnews reduziert sich die Themen- und die Akteursvielfalt. Themen, die früher zur Nische des Boulevardjournalismus gehörten, werden auch von Medientiteln mit Qualitätsanspruch aufgenommen und entfalten sich zu «Medienhypes», die die ganze Medienarena beherrschen. Exemplarisch für das Jahr 2013 war hier der Fall «Carlos». Diejenigen Themen erhalten am meisten Berichterstattung, die moralisch-emotional aufgeladen werden.
Entsprechend erzielen auch diejenigen Akteure am meisten Resonanz, die ihre Themen stark auf Gegensätze zuspitzen und Differenzierungen vermeiden. Diejenigen politischen Akteure, die dies praktizieren werden mit hoher Aufmerksamkeit belohnt, diejenigen, die abwägen, werden mit geringer Resonanz bestraft.
Massnahmen sind notwendig
Die strukturelle Krise, der Qualitätsverlust und die immer noch geringe Widerstandkraft in der Branche gegen möglichst billigen, reichweitenzentrierten Journalismus sind Probleme, die die Medienkonsumenten als Bürger eines demokratischen Gemeinwesens betreffen. Medienpolitische Reflexionen sind deshalb nötig. Das Jahrbuch begrüsst die diesbezüglichen Diskussionen und die Standortbestimmung der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK). (Universität Zürich/ots/mc/ps)
Untersuchungsanlage und Methodik
Die Untersuchung der Qualität der Medien vollzieht sich auf zwei Stufen. Erstens wird die publizistische Versorgung – d.h. die Auflage bzw. die Nutzung, die Einnahmen und die Besitzverhältnisse der Informationsmedien in der Schweiz – untersucht. Im Jahre 2013 erreichen 145 Medientitel die für diese Untersuchung erforderliche Abdeckungsrate von 0.5% der Wohnbevölkerung pro Sprachregion. Von diesen Titeln werden jeweils in einem zweiten Schritt die 48 bedeutendsten Titel aller Mediengattungen (Presse, Radio, Fernsehen, Newssites) in den drei grossen Sprachregionen der Schweiz einer Qualitätsanalyse unterzogen auf der Basis der Merkmale Vielfalt, Relevanz, Aktualität und Professionalität (Weiterführende Angaben zur Methodik und zum zugrunde liegenden Qualitätsverständnis auf www.foeg.uzh.ch).
Wozu dieses Jahrbuch?
Das Ziel dieses Jahrbuchs ist die Stärkung des Qualitätsbewusstseins bei den Medienmachern und beim Publikum. Das Jahrbuch bildet eine Quelle für Medienschaffende, Akteure aus Politik und Wirtschaft, die Wissenschaft und für alle Interessierte, die sich mit der Entwicklung der Medien und ihren Inhalten auseinandersetzen wollen. Anstoss für das Jahrbuch bildet die Einsicht, dass die Qualität der Demokratie von der Qualität der medienvermittelten Kommunikation abhängt. Das Jahrbuch will einen Beitrag dazu leisten, dass die Qualität der Medien ein wichtiges Thema öffentlicher Kommunikation wird.
Wer zeichnet für dieses Jahrbuch verantwortlich?
Das Jahrbuch wird herausgegeben durch das fög – Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft / Universität Zürich (www.foeg.uzh.ch). Folgende Autoren sind am Jahrbuch 2014 beteiligt (in alphabetischer Reihenfolge): Urs Christen, Mark Eisenegger, Patrik Ettinger, Angelo Gisler, Lucie Hauser, Kurt Imhof, Esther Kamber (1964-2014), Mario Schranz, Linards Udris und Daniel Vogler.
Wer finanziert und unterstützt dieses Jahrbuch?
Die Finanzierung für das Jahrbuch wird durch die gemeinnützige Stiftung Öffentlichkeit und Gesellschaft (www.oeffentlichkeit.ch) eingebracht. Der Stiftungsrat setzt sich zusammen aus: Christine Egerszegi-Obrist, Kurt Imhof, Yves Kugelmann, Fabio Lo Verso, Dick Marty, Oswald Sigg und Peter Studer.
Die Stiftung verdankt die Mittel für das Projekt den folgenden Donatoren: Adolf und Mary Mil Stiftung, Allreal Holding AG, Anne Frank Fonds Basel, Credit Suisse Foundation, Die Schweizerische Post AG, Verband Interpharma Basel, Paul Schiller Stiftung, Schweizerische Mobiliar Versicherungsgesellschaft AG, Swiss Re, Zürcher Kantonalbank und verschiedenen Einzeldonatoren.
Wo erscheint das Jahrbuch?
Das Jahrbuch erscheint im Schwabe Verlag in gedruckter Form (ISBN 978-3-7965-3320-4) und als Online-Book (ISBN 978-3-7965-3321-1). Unter www.foeg.uzh.ch publiziert das fög laufend weitere Untersuchungen und kommuniziert deren zentrale Befunde. Daneben publiziert das fög unterjährig Studien und Reflexionen, die auf www.schwabeverlag.ch beziehbar sind.
Dieses Jahrbuch widmen wir unserer verstorbenen Forschungsleiterin Esther Kamber. Sie hat dieses Unternehmen entscheidend geprägt.