«Staatsschuldenkrise» und «Eurokrise» als Fehldiagnose

«Staatsschuldenkrise» und «Eurokrise» als Fehldiagnose

St. Gallen – Etiketten wie «Staatsschuldenkrise» oder «Eurokrise» benennen Symptome, verdecken aber die wahren Ursachen der gegenwärtigen Probleme Europas. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Forschungsgemeinschaft für Nationalökonomie der Universität St.Gallen (FGN-HSG). Irland geriet demnach nicht in finanzielle Schwierigkeiten, weil es «über seine Verhältnisse lebte». Auslöser war vielmehr die Finanzkrise, die dazu führte, dass Banken mit Milliardenbeiträgen gerettet werden mussten und über die von ihr ausgelöste Rezession Steuereinnahmen in nicht gekanntem Ausmass wegbrechen liess. Diese durch den Finanzsektor bedingten Entwicklungen  wurden durch Panikreaktionen auf den Finanzmärkten verstärkt, was sich in hohen Zinssätzen auf irische Staatsanleihen und extremen Herabstufungen Irlands durch die Ratingagenturen widerspiegelte.

In der Studie fragt eine Gruppe von Forschenden um Prof. Dr. Manfred Gärtner, welche Faktoren Irland unter den europäischen Rettungsschirm getrieben haben. Diese Frage gewinnt Brisanz, weil Irland bis zur Immobilien- und Finanzkrise 2008 mit Europas höchsten Einkommenswachstumsraten in die Spitzengruppe der Pro-Kopf-Einkommen vorgestossen war und als fiskalpolitischer Musterknabe galt. Weiter hatte das Land nach zwei Jahrzehnten konsequenten Schuldenabbaus mit 25% eine der tiefsten Staatsschuldenquoten Europas und schwarze Budgetzahlen vorzuweisen.

Die Arbeit erzählt Irlands Odyssee durch die Krise vor dem Hintergrund eines auf Daten basierenden Modells des Marktes für Staatsanleihen. Zentrale Ergebnisse der Studie lauten:

  • Wichtigster Auslöser und treibende Kraft hinter den Haushalts- und Schuldenproblemen Irlands ist die 2008 ausgelöste Finanzkrise, welche die Staatsfinanzen ins Chaos stürzte. Bezeichnungen wie «Schuldenkrise» und «Eurokrise» führen bei der Problemdiagnose in die Irre. Ihre unkritische Übernahme durch breite Kreise der Wissenschaft, der Medien und auch der Politik, lenkte die Diskussion und politischen Bemühungen in die falsche Richtung, während die Probleme, welche die Finanzkrise ausgelöst hatten und anheizen, weiterhin viel zu wenig Aufmerksamkeit finden.
  • Irlands Erfahrung unterstreicht, dass das Mantra «über ihre Verhältnisse» lebender Staaten die eigentliche Ursache des Problems verhüllt. Kein Industrieland kann vergleichbare Entschlossenheit, Einfallsreichtum und politischen Konsens beim Abbau als nicht tragbar erachteter Staatsschulden vorweisen. Aber Irlands Reduktion des Schuldenstands von 110% auf 25% des Volkseinkommens reichte nicht aus, um die Finanzmärkte ruhig zu halten und nicht zum Opfer der Finanzkrise zu werden. Angesichts dieser Erfahrung bleibt rätselhaft, wie staatliches Sparen und Schuldenbremsen den Status einer Wundermedizin gegen vom Finanzmarkt ausgehende Krisen erlangen konnten.
  • Nimmt man die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzlage von Ländern auf deren Zinsen und Ratingnoten als Massstab, wie sie seit der Jahrtausendwende für die OECD-Mitglieder beobachtet werden konnten, dann hätten die Auswirkungen der Finanzkrise auf Irlands Staatsfinanzen nicht die mit Panik zu bezeichnende Reaktion auf dem Markt für Staatsanleihen auslösen dürfen.
  • Irlands Beurteilung durch alle führenden Ratingagenturen ist auffällig. Sie liegt weit abseits der empirischen Muster, die aus Daten für frühere Jahre und andere Länder abgeleitet werden können. In einem Markt, in dem multiple Gleichgewichte und selbsterfüllende Prognosen lauern, stecken in exzessiven Herabstufungen und einem hyperaktiv wirkenden Strom von Ratingevents besondere Gefahren. Jede schlechte Nachricht, ob gerechtfertigt oder nicht, kann eine Krise auslösen oder beschleunigen und einen sich selbst antreibenden Prozess Richtung Staatsbankrott in Gang setzen.

Die Studie mit dem Titel „The near-death experience of the Celtic Tiger: A model-driven narrative from the European sovereign debt crisis“ von Prof. Dr. Manfred Gärtner, Björn Griesbach, Ph.D. und Giulia Mennillo ist in der Zeitschrift Intereconomics – Review of European Economic Policy, Heft 6, Band 48, November/Dezember 2013, erschienen.

Sie ist online erhältlich unter: www.intereconomics.eu/archive/year/2013/6/
Das dem Artikel zugrunde liegende Diskussionspapier ist frei zugänglich unter der Adresse http://ideas.repec.org/p/usg/econwp/201321.html. (HSG/mc/ps)

Universität St.Gallen (HSG)
Die Universität St.Gallen (HSG) ist die Universität des Kantons St.Gallen und die Wirtschaftsuniversität der Schweiz. Internationalität, Praxisnähe und eine integrative Sicht zeichnen die Ausbildung an der HSG seit ihrer Gründung im Jahr 1898 aus. Heute bildet die Universität rund 7300 Studierende aus 80 Nationen in Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, Rechts- und Sozialwissenschaften sowie in Internationalen Beziehungen aus. Mit Erfolg: Die HSG gehört zu den führenden Wirtschaftsuniversitäten Europas. Im European Business School Ranking der «Financial Times» 2013 belegt die HSG den Platz 7. Die «Financial Times» hat den Master in «Strategy and International Management» (SIM-HSG) 2013 zum dritten Mal in Folge als weltweit besten bewertet. Dies im jährlichen Ranking von Master-Programmen in Management. Für ihre ganzheitliche Ausbildung auf höchstem akademischem Niveau erhielt sie mit der EQUIS- und AACSB-Akkreditierung internationale Gütesiegel. Studienabschlüsse sind auf Bachelor-, Master- und Doktorats- bzw. Ph.D.-Stufe möglich. Zudem bietet die HSG erstklassige und umfassende Angebote zur Weiterbildung an. Kristallisationspunkte der Forschung an der HSG sind ihre 41 Institute, Forschungsstellen und Centers, welche einen integralen Teil der Universität bilden. Die weitgehend autonom organisierten Institute finanzieren sich zu einem grossen Teil selbst, sind aber dennoch eng mit dem Universitätsbetrieb verbunden.    

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