Notstand in Ägypten: Fast 100 Tote – ElBaradei tritt zurück
Kriegsähnliche Szenen am Rabaa-al-Adawija-Platz im Kairoer Stadtteil Nasr City.
Kairo – Nach der blutigen Räumung der islamistischen Protestlager in Kairo mit fast 100 Toten gilt in Ägypten für einen Monat der Notstand. Mindestens 95 Menschen kamen bei den schweren Unruhen am Mittwoch binnen weniger Stunden ums Leben, 874 Menschen wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums verletzt. Die Muslimbrüder erklärten, die Zahl der Todesopfer sei deutlich höher als von den Behörden angegeben.
Inzwischen hat Vizepräsident Mohamed ElBaradei seinen Rücktritt eingereicht. In einem Schreiben an den Übergangspräsidenten Adli Mansur teilte er mit, er könne nicht länger «Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, mit denen ich nicht einverstanden bin». Die Polizei hätte die Protestlager der Islamisten in Kairo nicht mit Gewalt räumen müssen. Es seien noch nicht alle friedlichen Alternativen ausgeschöpft gewesen, erklärte ElBaradei. «Bedauerlicherweise werden diejenigen, die zu Gewalt und Terror aufrufen, von dem, was heute geschehen ist, profitieren», heisst es in dem Rücktrittsschreiben ElBaradeis an Übergangspräsident Adli Mansur, das vom staatlichen Nachrichtenportal Al-Ahram veröffentlicht wurde.
Ausgangssperre von 19.00 Uhr bis 6.00 Uhr
Nachdem die Polizei die Anhänger des vor sechs Wochen gestürzten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi aus den Protestlagern vertrieben hatte, stürmten Sympathisanten der Demonstranten öffentliche Gebäude in mehreren Provinzen. Daraufhin rief Übergangspräsident Adli Mansur den Notstand aus. In Kairo und einigen anderen Provinzen wurde eine Ausgangssperre von 19.00 Uhr bis 6.00 Uhr verhängt. Die Ausrufung des Notstandes ermöglicht Razzien und Festnahmen ohne gerichtliche Anordnung.
Die Polizei setzte bei der gewaltsamen Räumung der beiden Protestlager erst Tränengas ein. Die Islamisten gingen mit Steinen und Flaschen auf Sicherheitskräfte los, später wurde von beiden Seiten scharf geschossen. Nach Angaben des ägyptischen Innenministeriums wurden insgesamt sechs Polizisten getötet. Mick Deane, ein Kameramann des britischen Senders Sky News, wurde erschossen, als er die Strassenkämpfe filmte. Mohammed al-Beltagi, ein führendes Mitglied der Muslimbruderschaft, sagte, auch seine Tochter sei bei der Stürmung des Protestlagers vor der Rabea-al-Adawija-Moschee erschossen worden.
Nach Beginn der Räumung kam es in mehreren Provinzen zu gewalttätigen Übergriffen radikaler Islamisten. Auf dem Sinai stürmten bewaffnete Männer mehrere öffentliche Gebäude. In Oberägypten griffen Islamisten nach Darstellung christlicher Aktivisten vier Kirchen an. In der Innenstadt von Luxor protestierten rund 300 Demonstranten gegen die Polizeigewalt. In Marsa Matruh geriet nach Informationen des Nachrichtenportals youm7 das Justizgebäude bei Strassenschlachten zwischen Mursi-Anhängern und der Polizei in Brand. Wütende Islamisten stürmten laut Staatsfernsehen auch ein Gebäude der Militärpolizei.
Zugsverkehr von und nach Kairo eingestellt
Das Innenministerium ordnete vorübergehend die Einstellung des Zugverkehrs von und nach Kairo an, offensichtlich um die Bewegungsfreiheit von Protestgruppen einzuschränken. Die Islamisten hatten die Zeltlager in Kairo vor fünf Wochen errichtet, um Mohammed Mursis Wiedereinsetzung zu erzwingen. Das Militär hatte den Präsidenten am 3. Juli nach Massenprotesten abgesetzt.
Ein Grossteil der Demonstranten hatte sich in Sicherheit gebracht, als am Morgen ein Grossaufgebot der Polizei mit Tränengas-Granaten anrückte. Andere Mursi-Anhänger leisteten jedoch Widerstand. Ein dpa-Reporter sah, wie Demonstranten im Viertel Nasr-City auf Polizisten feuerten, die daraufhin das Feuer erwiderten und mit gepanzerten Fahrzeugen weiter in das Zeltlager vordrangen.
Die Kundgebung auf dem Al-Nadha-Platz in Giza löste sich nach drei Stunden auf. In Nasr-City leistete ein harter Kern noch am späten Nachmittag Widerstand. In der Hafenstadt Alexandria stürmten Islamisten das provisorische Gouverneursgebäude. Zu Ausschreitungen kam es auch in Assiut, Suez, Beni Sueif, Al-Scharkija, Al-Mahalla Al-Kubra und Al-Minia.
«Nachdem das ägyptische Innenministerium entschieden hat, die Sit-Ins der Muslimbrüder in Kairo aufzulösen, haben Unterstützer der Muslimbrüder in Oberägypten einen Rachefeldzug gegen koptische Christen begonnen», schrieb die Organisation Maspero Jugendunion im sozialen Netzwerk «Facebook». Anwohner in der Stadt Al-Arisch auf dem Sinai beobachteten, wie Demonstranten die historische Mar-Guirgis-Kirche zerstörten.
Europa und USA verurteilen Eskalation der Gewalt
Der Vorsitzende der salafistischen Partei des Lichts, Junis Machiun, erklärte: «Wir fordern die Führung dieses Landes auf, die Gewalt gegen die Protestierenden und friedlichen Demonstranten einzustellen.» Die radikale Partei des Lichts und die gemässigte Islamistenpartei Starkes Ägypten sind die einzigen unter den grösseren Islamistenparteien, die sich nach Mursis Sturz nicht mit den Muslimbrüdern solidarisiert hatten.
Die Europäische Union und die USA verurteilten die Eskalation der Gewalt in Ägypten und riefen die Sicherheitskräfte zur Mässigung auf. Die Rechte aller Bürger auf Meinungsäusserung und friedlichen Protest müssten gewahrt bleiben, verlangte die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton am Mittwoch in Brüssel.
«Wir haben das ägyptische Militär und die Sicherheitskräfte mehrfach dazu aufgefordert, sich zurückzuhalten und die Rechte seiner Bürger zu achten», sasgte der stellvertretende Sprecher des Weissen Hauses, Josh Earnest.
Die deutsche Bundesregierung appellierte an die Übergangsregierung in Kairo, für eine Beruhigung der Lage zu sorgen. Aussenminister Guido Westerwelle zeigte sich extrem besorgt. Erst vor zwei Wochen hatte er mit Vertretern der Übergangsregierung und der Muslimbrüder gesprochen. «Wir fordern alle Seiten auf, umgehend zu einem politischen Prozess zurückzukehren, der alle politischen Kräfte einschliesst», sagte Westerwelle. Den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül zitierte die Nachrichtenagentur Anadolu mit den Worten; «Was heute in Ägypten passiert, ist völlig inakzeptabel.» (awp/mc/upd/ps)