Investieren in Europa: Von Japan lernen
Von Ad van Tiggelen, Senior Investment Specialist in der Abteilung Investment Content Management bei ING Investment Management.
Frankfurt am Main – Japan war das erste Land, das sich der geballten Wirkung einer alternden Bevölkerung, fallender Vermögenspreise, eines schwächelnden Bankensektors und einer Serie „suboptimaler“ wirtschaftspolitischer Maßnahmen ausgesetzt sah. Hört sich das bekannt an? Kein Wunder. Viele dieser Faktoren treffen mittlerweile auch auf Europa zu. Welche Lehren können wir aus den japanischen Erfahrungen ziehen?
Man könnte natürlich meinen, dass die Unterschiede zwischen Japan und Europa für einen aussagekräftigen Vergleich immer noch zu groß sind. Wir sind hingegen überzeugt, dass die Gemeinsamkeiten sogar noch grösser sind, vor allem zwischen Japan und der überaus wichtigen deutschen Wirtschaft. Beides sind Länder mit einer Bevölkerung, die lieber spart als ausgibt und der es wichtig ist, dies unter Kontrolle zu haben. Beide Länder sind Exporteure, die hochwertige Industriegüter liefern. Die Bevölkerungen beider Länder altern rapide: 2050 wird über ein Drittel der deutschen Bevölkerung älter als 65 Jahre sein, in Japan sind es sogar 40 Prozent. Fast alle Länder Europas ringen mit diesem demografischen Problem, einer vermehrten alternden Gesellschaft und wachsender Ungewissheit im Hinblick auf die Bezahlbarkeit von Renten und Gesundheitsversorgung führt. Das untergräbt wiederum die Zuversicht der Verbraucher, vor allem vor dem Hintergrund der Eurokrise.
Europas Inflationsrate dürfte bis 2013 weiter zurückdrehen
Wenn auch die Inflation in Europa immer noch deutlich höher ist als in Japan, so lässt sich auch hier eine zunehmende Konvergenz beobachten. Die jüngsten Inflationszahlen aus Europa deuten auf einen rückläufigen Trend hin. Die Kombination aus niedrigeren Rohstoffpreisen und einem äusserst moderaten Lohnwachstum – abgesehen von vorübergehenden Nachholeffekten in Deutschland – wird wahrscheinlich dazu führen, dass die Inflationsrate 2013 noch weiter zurückgeht. Einige Marktbeobachter fürchten, dass stimulative Massnahmen der EZB die Inflation antreiben könnten. Wir halten dagegen, dass dies so lange nicht der Fall sein wird, wie das Vertrauen angeschlagen ist und das zusätzliche Geld nicht in die Realwirtschaft fliesst. Daher dürften die Staatsanleiherenditen in den Kernländern weiterhin auf niedrigem Niveau verharren (wie dies auch in Japan der Fall ist).
Investmentzyklus markant geschrumpft
Für europäische Aktien- und Anleiheinvestoren hat sich das weltwirtschaftliche Umfeld grundlegend gewandelt. Die Aktienbewertungen bewegen sich seit geraumer Zeit auf ungewöhnlich niedrigem Niveau und der durchschnittliche Investmentzyklus – bestehend aus den Phasen Erholung, Wachstum, Überschwung und Rezession – ist von rund sieben Jahren auf etwa sechs Monate geschrumpft. Der Grund liegt auf der Hand: Bei Leitzinsen von nahezu null müssen die Zentralbanken die Wirtschaftstätigkeit über massive Liquiditätseinschüsse stimulieren, die die Stimmung allerdings nur vorübergehend heben. Deshalb kam es in den letzten paar Jahren zu kurzen, intensiven Phasen, in denen die Anlegerschaft auf Risiko setzte, im schnellen Wechsel mit von risikoscheu geprägten Phasen. Dies schuf ein Umfeld, in dem Anleger sich weitaus opportunistischer verhalten müssen.
Auch hier lassen sich Lehren aus den in Japan gemachten Erfahrungen ziehen, in denen Anleger seit den 90er Jahren niedrige Renditen und relativ kurze Zyklen erleben. Mit dieser Erfahrung im Hinterkopf sollten sich Investoren bei der Anlageauswahl vor allem an Folgendem orientieren:
- Unternehmen mit internationaler Ausrichtung, die sich nicht auf den heimischen Markt beschränken;
- Unternehmen mit auskömmlichem Dividendenwachstum und nicht bloss hohen Dividenden;
- Unternehmen mit defensivem statt zyklischem Geschäftsmodell.
Unternehmen mit diesen Merkmalen übertreffen langfristig generell den Markt, wenn sie auch in Phasen, in denen der Markt infolge stimulativer geldpolitischer Massnahmen steigt, kurzfristig hinter dem Markt zurückbleiben mögen. Im Endeffekt befinden wir uns jetzt wohl in einer Phase, in der europäische Investoren über längere Zeit niedrige Zinsen, kurze Zyklen und nur bescheidene Renditen erleben werden. Die Japaner leben bereits seit fast 20 Jahren damit. Warum nicht aus ihren Erfahrungen lernen? (ING Investment Management/mc/ps)