2010 haben mehr Städter Sozialhilfe bezogen
Bern – 2010 haben mehr Städter Sozialhilfe bezogen als in den Vorjahren – allerdings viel weniger als vor der Krise befürchtet. Am schlechtesten steht Biel da. Das grösste Risiko haben Geschiedene, Kinderreiche sowie ledige Männer.
Seit 2006 konnten die Sozialämter mit positiven Schlagzeilen aufwarten: Jahr für Jahr waren in den Städten weniger Menschen von der Sozialhilfe abhängig. 2010 nun wurde diese Entwicklung gebremst. In den 13 Städten, welche die Städteinitiative Sozialpolitik unter die Lupe genommen hat, ist die Zahl der Fälle gegenüber 2009 um durchschnittlich 2% gestiegen. Den Bericht dazu haben Vertreter der Städte am Dienstag in Bern vorgestellt.
Uneinheitliches Bild
Das Bild ist jedoch sehr uneinheitlich. Mehr Sozialhilfeempfänger als in den Vorjahren gab es in in Bern, Biel, Lausanne, Luzern, Schaffhausen, Schlieren ZH, Winterthur ZH und Zug. In Zürich lebten gleich viele Menschen von der Sozialhilfe, und in vier Städten waren es weniger: in Basel, St. Gallen, Uster ZH und Wädenswil ZH. Die Unterschiede sind beträchtlich. Während die Sozialhilfequote in Biel bei 10,9% liegt, beträgt sie in Uster nur gerade 1,7%.
Städte stehen besser da als befürchtet
Damit stehen die Städte allerdings weit besser da als befürchtet – für die Initiative «eine positive Überraschung». Vor der Krise sei ein Anstieg der Fälle um bis zu 30% prognostiziert worden, sagte Martin Waser vor den Medien. Waser ist Zürcher Sozialvorsteher (SP) und Präsident der Städteinitiative.
Noch unklar ist, welche Auswirkungen das revidierte Gesetz über die Arbeitslosenversicherung hat. Es trat am 1. April 2011 in Kraft und hat Tausenden von Arbeitslosen auf einen Schlag den Anspruch auf Arbeitslosengelder entzogen. «Die Revision hat sicher einen negativen Effekt», sagte Waser, «wir können ihn aber noch nicht beziffern – bisher ist er jedenfalls sehr klein».
Hohes Risiko für Geschiedene
Das grösste Risiko, den Gang zum Sozialamt antreten zu müssen, haben bestimmte Gruppen: Geschiedene, Kinderreiche, ledige Männer, Alleinerziehende, Menschen ohne Berufsabschluss und Ausländerinnen. In Lausanne müssen 14% aller geschiedenen Frauen und Männer sowie 12,2% der ledigen Männer auf Sozialhilfe zurückgreifen. In Biel liegen diese Quoten bei 15% und 11,8%.
Besonders viele Sozialhilfeempfänger gibt es zudem in der Westschweiz, in Agglomerationen mit günstigen Wohnungen und in den grösseren Deutschschweizer Städten mit Zentrumsfunktion.
Riesige Anzahl von Working Poor
Etliche Bezüger haben zwar ein eigenes Einkommen – in Uster die Rekordquote von 60%, in Biel 30% – doch dieses reicht nicht für den Lebensunterhalt. «Die Zahlen erschrecken uns», sagte der St. Galler Sozialamtleiter Patrik Müller. Für diese sogenannten Working Poor brauche es künftig eigene Programme.
Dass Biel so schlecht dasteht, hat vor allem damit zu tun, dass sich die 50’000-Einwohner-Stadt von ihren grossen strukturellen Problemen der 80er-Jahre nie mehr ganz erholen konnte. So jedenfalls erklärte der St. Galler Müller das Phänomen.
Nicht für immer ein «Sozialfall»
Wer einmal Sozialhilfe bezieht, muss nicht auf ewig ein «Sozialfall» bleiben, wie es der Volksmund nennt. Wer von der Sozialhilfe wegkommt, dem gelingt dies meistens, weil er entweder eine existenzsichernde Arbeit findet – oder weil er andere Sozialleistungen wie IV oder Arbeitslosengelder bezieht.
Städte wollen ein neues Gesetz
Städteinitiative-Präsident Martin Waser hält das Schweizer System der sozialen Sicherung zwar für gut – ihm fehlt aber die Gesamtschau. Häufig führten finanzpolitische Überlegungen dazu, dass die Probleme von einer Versicherungen zur anderen verschoben statt gelöst würden: «Statt auf Lösungen konzentriert man sich darauf, verschont zu werden.»
Die Städte hoffen deshalb auf ein Rahmengesetz des Bundes, das nationale Standards festlegt. Hinweise auf ein solches Gesetz gab es laut Waser bereits, unter anderem von Innenminister Didier Burkhalter. Waser sähe ein solches Gesetz gern in drei bis vier Jahren auf dem politischen Tapet. «Doch das», sagte er, «ist wohl Wunschdenken».
Der Städteinitiative Sozialpolitik gehören insgesamt über 50 Schweizer Städte an. (awp/mc/pg)