«Der Freihandel floriert – aber in die falsche Richtung»
Konsumentinnen und Konsumenten aus der Schweiz strömen in Scharen nach Konstanz oder Lörrach.
Zürich – Der boomende Einkaufstourismus zeigt: Hohe Preisdifferenzen zwischen der Schweiz und dem angrenzenden Ausland lassen sich nicht mehr rechtfertigen. Die Bevölkerung nimmt ihre Chance wahr, von den bereits offenen Grenzen zu profitieren. «Der Widerstand gegen das Agrarabkommen mit der EU wird damit von der Realität überholt», schreibt die Interessengemeinschaft Agrarstandort Schweiz IGAS in einer Mitteilung.
Jeden Samstag kann beobachtet werden, wie der Freihandel in der Praxis funktioniert. In Scharen strömen Konsumentinnen und Konsumenten aus der Schweiz nach Konstanz oder Lörrach, um im EU-Tiefpreisland Deutschland einzukaufen und so vom schwachen Euro zu profitieren. Dank hohen Freigrenzen funktioniert der bei gewissen Bauernorganisationen verpönte Freihandel für Privateinkäufer bereits heute. Leider weitgehend nur in eine Richtung. Zum Schaden des Schweizer Detailhandels, der Nahrungsmittelindustrie, der Landwirtschaft und des Fiskus. Wer im Ausland einkauft, zahlt im Inland keine Mehrwertsteuer.
Jeder dritte Euro in Konstanz kommt aus der Schweiz
Etwa 35 Prozent des Umsatzes in Konstanz gehen schon auf das Konto der Schweizer, schätzt Utz Geiselhart vom Handelsverband Südbaden laut dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Die Konjunkturforschungsstelle BAK Basel Economics rechnetdamit, dass die Schweizer Haushalte im Jahr 2011 rund 310 Millionen Franken mehr für Lebensmittel im grenznahen Ausland ausgeben als im vergangenen Jahr – somit dürften weit über zwei Milliarden Franken abfliessen. Ein wichtiger Posten auf dem Einkaufszettel ist traditionell Fleisch, allerdings auch Milchprodukte.
Schweiz ist zu klein, um sich abzuschotten
Die Zahlen zeigen eines: Die Konsumentinnen und Konsumenten sind nicht mehr bereit, klaglos massiv überhöhte Preise zu bezahlen, welche von der Politik verordnet werden. Die Bevölkerung nutzt bereits ihre Möglichkeiten, um vom Freihandel zu profitieren. Die Schweiz ist zu klein, um sich abzuschotten.
Marktöffnung ein Gebot der Stunde
Die IGAS unterstützt die Verhandlungen über ein Abkommen im Agrar- und Gesundheitsbereich. Marktöffnung ist nicht nur wegen der Direkteinkäufe im Ausland ein Gebot der Stunde. Die Schweizer Branche und damit auch die Bauern verlieren heute Marktanteile im Nahrungsmittelbereich, wie etwa bei verarbeiteten Lebensmitteln wie Joghurts. Nur ein Abkommen bietet der schweizerischen Land- und Ernährungswirtschaft die Möglichkeit, diese Marktanteile durch Exporte auszugleichen.
Offene Märkte bringen tiefere Preise
Mit dem Abkommen erhält die Schweiz Zugang zu einem Absatzmarkt mit rund 500 Mio. potentiellen Konsumentinnen und Konsumenten, wovon auch die Bauern profitieren werden. Gemäss einer Studie der ETH dürften die Konsumentenpreise bei offenen Märkten um bis zu 10 Prozent sinken – die besten Voraussetzungen, damit der Einkaufstourismus wieder abnimmt. Der Bauernverband als Dachverband lehnt bisher ein solches Abkommen ab und schweigt zu den neusten Entwicklungen. Es stellt sich die Frage, wie er auf diese Herausforderung reagieren möchte. (IGAS/mc/ps)