SVP scheitert mit Angriff auf Bilaterale
Bern – Am bilateralen Weg wird nicht gerüttelt. Die SVP ist in der Europadebatte im Nationalrat mit ihren Angriffen auf Schengen/Dublin gescheitert. Die Bauernvertreter hingegen setzten sich durch: Die Agrarverhandlungen mit der EU sollen abgebrochen werden. Die über dreistündige ausserordentliche Session zur Europapolitik folgte am Donnerstag weitgehend dem gängigen Muster.
Die SVP, welche die Debatte gefordert hatte, liess an Schengen/Dublin und der Europapolitik des Bundesrats kein gutes Haar, während sich die Linke über Lohndumping im Zuge der Personenfreizügigkeit besorgt zeigte.
Kein Rückzug des EU-Beitrittsgesuchs
Die grosse Kammer hat den bilateralen Weg schliesslich bekräftigt und mehrere Vorstösse der SVP abgelehnt. Die Volkspartei wollte unter anderem das Schengen/Dublin-Abkommen neu verhandeln, um wieder systematische und autonome Grenzkontrollen einzuführen. Mit 122 zu 58 Stimmen lehnte der Rat die Motion ab. Auch das Ansinnen, wonach die Schweiz ihre Visapolitik autonom bestimmen sollte, wurde mit 125 zu 58 Stimmen abgelehnt. Ebenfalls eine Abfuhr erteilte der Rat der Forderung, das gegenstandslos gewordene EU-Beitrittsgesuch zurückzuziehen.
Agrarverhandlungen mit EU sollen abgebrochen werden
Die Bauernvertreter hingegen setzten sich durch. Die Agrarverhandlungen mit der EU sollen abgebrochen werden – der Nationalrat hiess drei Vorstösse gut, die in diese Richtung zielten. Die Motion von Rolf Joder (SVP/BE), die am weitesten geht und den Abbruch fordert, wurde mit 101 zu 73 Stimmen angenommen. Joder sorgt sich um das Einkommen der Bauern und befürchtet, mit einem Freihandelsabkommen wären «Tausende von Landwirtschaftsbetrieben» gefährdet. Bundesrat Johann Schneider-Ammann sieht dies anders: Ihm zufolge würde das Abkommen neue Absatzmärkte erschliessen und auch Schweizer Bauern neue Chancen eröffnen. Definitiv beschlossen ist noch nichts, denn auch der Ständerat muss über die Motion befinden. Dabei dürfte er dem Anliegen der Bauern kritischer gegenüberstehen, wie ein Entscheid vom Mittwoch zeigt: Er lehnte es ab, dem Bundesrat in den Agrarverhandlungen die Hände zu binden.
Cassis-de-Dijon-Prinzip bleibt erhalten
Abgelehnt wurden zwei Motionen, die das Cassis-de-Dijon-Prinzip nach nur einem Jahr wieder abschaffen wollten. Am Ende stimmte der Nationalrat 7 von 23 Vorstössen zu. Dazu gehört auch eine FDP-Motion, die Verhandlungen mit der EU über den gegenseitigen Marktzutritt für Finanzdienstleister fordert. Ebenfalls überwiesen wurde ein SVP-Postulat, das vom Bundesrat einen Bericht über die Konsequenzen von Schengen/Dublin verlangt. Einen jährlichen Bericht soll der Bundesrat zum Stand der bilateralen Abkommen vorlegen – so will es eine Motion der Grünen. Zudem soll die Regierung das Tabak-Dossier aus den Verhandlungen über ein EU-Gesundheitsabkommen ausklammern. Eine entsprechende Motion fand eine grosse Mehrheit. Der SVP-Motionär befürchtet negative Auswirkungen auf die Zigarettenproduktion in der Schweiz.
Schengen/Dublin und Wahlkalkül
Zur Hauptsache haben sich die Nationalrätinnen und -räte in der Debatte zu Schengen/Dublin und zur Personenfreizügigkeit geäussert. Martine Brunschwig Graf (FDP/GE) kritisierte, es sei Mode geworden, sich auf den Volkswillen zu berufen. Sie erinnerte daran, dass die Stimmbürger Schengen/Dublin 2005 deutlich angenommen haben. Während Christoph Mörgeli (SVP/ZH) vor «fremden Richtern» warnte und Luzi Stamm (SVP/AG) beteuerte, auch die SVP sei für den bilateralen Weg und nicht etwa für die Isolation, orteten die Mitteparteien viel Wahlkalkül. Die Europadiskussion dürfe kein «Schaulaufen im Wahljahr» werden, warnte etwa Walter Müller (FDP/SG). Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey bekräftigte den Willen des Bundesrats, den bilateralen Weg weiterzugehen und keinen EU-Beitritt anzustreben. «Es gibt keine Hintertüren oder Doppelbödigkeiten», sagte sie an die Adresse der SVP.
Nebenwirkungen der Freizügigkeit
Insbesondere die Linke beschäftigte sich intensiv mit den Nebenwirkungen der Freizügigkeit. Allerdings standen am Donnerstag diesbezüglich keine Vorstösse zur Debatte. Marina Carobbio (SP/TI) bezeichnete die Tatsache, dass gemäss Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) rund 40 Prozent der kontrollierten Betriebe zu tiefe Löhne zahlen, als «nicht tragbar». Die Kontrollen reichten nicht; die Bussen seien zu tief. Laut Hans-Jürg Fehr (SP/SH) wird die Personenfreizügigkeit «von den Arbeitgebern in Verruf gebracht».
Missbräuchen «mit rigiden Massnahmen» entgegentreten
Auch Volkswirtschaftsminister Schneider-Ammann will den Missbräuchen «mit rigiden Massnahmen» entgegentreten. Er habe das Seco damit beauftragt, die Lage zu analysieren und Lösungen vorzuschlagen. Diese sollten dem Bundesrat nach dem Sommerferien vorliegen. Nichts wissen wollte der Nationalrat von der SP-Forderung, der EU Lösungen vorzuschlagen, um die Schweizer Volksrechte zu schützen und sonst den bilateralen Weg für gescheitert zu erklären. Auch die Zusammenarbeit mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex wird nicht gekündigt, wie es Geri Müller (Grüne/AG) verlangt hatte.
Präsident des Europäischen Parlaments fordert Rahmenabkommen
Die Schweiz und die EU müssen ihre Beziehungen vereinfachen und ihre 120 bilateralen Abkommen durch ein umfassendes Rahmenabkommen ersetzen. Dies forderte der Präsident des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek, bei seinem Besuch am Donnerstag in Bern. Es gehe um das Wohlergehen der Schweizer als Europäer, die in hohem Masse vom einheitlichen Markt und der Freizügigkeit profitierten, sagte der Pole nach seinen Treffen mit Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey, Bundesrat Johann Schneider-Ammann und Nationalratspräsident Jean-René Germanier.
«Wir respektieren Eure Souveränität!»
Buzek verteidigte seinen Standpunkt, Druck auf Bern zu machen. «Wir respektieren Eure Souveränität!», betonte er vor den Medien. «Und wir respektieren die Eure!», entgegnete Calmy-Rey. Auf institutioneller Ebene müssten die Diskussionen weitergeführt werden, bis «konstruktive Lösungen» gefunden würden, sagte die Bundespräsidentin. Buzek liess sich vom Nationalratsentscheid am Donnerstagvormittag, wonach die Agrarverhandlungen mit der EU abgebrochen werden sollen, nicht beirren. Es sei in einer Demokratie normal, dass alle Standpunkte zum Ausdruck kommen, sagte er. Der Zeitpunkt für einen qualitativen Sprung in den Beziehungen zwischen Bern und Brüssel sei aber gerade jetzt richtig, betonte Buzek. Die internationale Finanzkrise und der arabische Frühling hätten ein günstiges Klima geschaffen.
Lehren aus der Geschichte ziehen
Man müsse die Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts ziehen. Das letzte Mal, als sich die Länder abgeschottet hätten – vor 80 Jahren – habe dies zum Krieg geführt, sagte Buzek weiter. Es gehe darum, nicht die gleichen Irrtümer zu begehen und sich zu öffnen. Am Freitag steht für die vielköpfige Delegation aus Brüssel ein Besuch im Lötschberg-Bahntunnel auf der Agenda – zur Veranschaulichung der schweizerischen Transportpolitik, wie es von Seiten der Parlamentsdienste heisst. (awp/mc/upd/ps/upd/ss)