Merja Hoppe, Institut Nachhaltige Entwicklung ZHAW
Merja Hoppe, Senior Researcher, Institut für Nachhaltige Entwicklung an der ZHAW.
Von Patrick Gunti
Moneycab: Frau Hoppe, der Bundesrat will die Mittel für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur künftig stärker bei den Benutzern auftreiben. Geplant ist u.a. eine schrittweise Preiserhöhung der Zugbillete- und Abos um 10 %. Weiter soll bei der direkten Bundessteuer der maximale Abzug für Fahrkosten auf die Höhe eines öV-Abonnements für Agglomerationen reduziert werden. Der Anreiz zum Pendeln über längere Distanzen soll so abgebaut werden. Führen diese Massnahmen ihrer Meinung nach zum Ziel?
Merja Hoppe: Die tatsächlichen Kosten der Mobilität sollen den Menschen spürbar werden und eine Verhaltensänderung bewirken, um die Verkehrsinfrastruktur, die Umwelt und die Kassen zu entlasten. Dies macht grundsätzlich Sinn, bei den Auswirkungen ist aber zu unterscheiden. Freizeitgestaltung trägt stark zum Verkehr bei und ist relativ flexibel. Hier dürfte eine Preiserhöhung schnell wirken, wenn sie ausreichend spürbar ist.
Beim Berufsverkehr geht es nicht nur um Fahrverhalten sondern auch um Wohn- und Arbeitsortwahl. Der Trend zu mehr Mobilität und Verkehr beruht aber nicht nur auf Einzelentscheidungen von Pendlern – es ist ein „Systemtrend“. Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Planung haben dazu beigetragen. Mit einer Preiserhöhung wird allerdings nur an einer Schraube im System gedreht. Die Wirkung wird eher mittelfristig eintreten und ist unsicher, da es im System „Gegenspieler“ gibt. Hierzu gehört beispielsweise das Einkommensniveau: Höhere Mobilitätskosten führen erst zur Verhaltensanpassung, wenn sie andere Kosten überwiegen. Wer es sich leisten kann, wird sein etabliertes, soziales Netz am Wohnort weiterhin höher schätzen als die Fahrtkosten. Auch auf politischer Ebene gibt es Gegenspieler: ein tiefes Steuerniveau und grosszügige Baulandausweisung können Fahrpreiserhöhungen nivellieren.
«Wer es sich leisten kann, wird sein etabliertes, soziales Netz am Wohnort weiterhin höher schätzen als die Fahrtkosten.»
Merja Hoppe, Senior Researcher, Institut für Nachhaltige Entwicklung an der ZHAW
Lässt sich der Pendlerverkehr zu den Stosszeiten denn mit höheren Preisen lenken? In der Regel kann man sich die Arbeitszeiten ja nicht aussuchen.
Zum Teil ist dies sicher richtig, wobei man hier auch die Ursachen kritisch hinterfragen muss. Nicht für alle Arbeitsplätze sind die heute noch üblichen Präsenzzeiten tatsächlich erforderlich. Unsere Gesellschaft und Wirtschaft sind immer noch nicht ganz im digitalen Zeitalter angekommen. Die technischen Voraussetzungen für Telearbeit oder flexible Arbeitszeiten sind vorhanden – die menschlichen weniger. Zusammenarbeit wird immer noch als gleichzeitige Arbeit am gleichen Ort verstanden. Um sich andere Möglichkeiten zu erschliessen, sind ein anderes Denken, Vertrauen und neue Kommunikationsformen nötig. Ein Lernprozess, der länger braucht als die Einführung neuer Technologien. Hier ist Potenzial, das unbedingt ausgeschöpft werden sollte. Verkehrssysteme, die sich an 4-5 Stunden des Tages orientieren, sind weder nachhaltig noch wirtschaftlich.
Selbst wenn die Ankündigungen so umgesetzt würden löst das nicht das aktuelle Problem von überfüllten Zügen auf den Hauptpendlerachsen. Wie könnte man dem Problem kurzfristig Abhilfe schaffen?
Ein Beitrag zur Lösung könnte sein, es nicht zu lösen. Überfüllte Züge (wobei die Schweizer Definition von „überfüllt“ ohnehin recht grosszügig ist) bei – und das ist wichtig – fehlender Alternative auf der Strasse wirken vielleicht sogar schneller als Preiserhöhungen. Unbequemlichkeit kann auch dazu führen, dass Pendler ihre Möglichkeiten prüfen, bspw. mit dem Arbeitgeber flexible Arbeitszeiten auszuhandeln. Selbst wenn dies nur für einen kleinen Teil der Berufstätigen möglich wäre, würde dies zur Entlastung in Spitzenzeiten beitragen. Die Politik könnte hier durchaus unterstützen: durch Information, den Dialog mit Unternehmen oder finanzielle Anreize.
«Die technischen Voraussetzungen für Telearbeit oder flexible Arbeitszeiten sind vorhanden – die menschlichen weniger.»
In den letzten Jahren hat man stark in den öffentlichen Verkehr investiert, die Fahrzeiten auf den Hauptverkehrsachsen massiv verkürzt und so viele Reisende bewegt, vom Auto auf den öffentlichen Verkehr umzusteigen. Ist die neue Ausrichtung der Verkehrspolitik nicht ein Widerspruch?
Durch Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr kommt man dem Ziel nachhaltiger Mobilität einen Schritt näher. Andererseits wurden die Erreichbarkeit und damit die Bedingungen für Pendeln grundsätzlich verbessert und damit gefördert. Dem versucht man jetzt wieder entgegen zu steuern. Hier zeigt sich die Zwickmühle, in der sich Politik und Planung befinden. Einerseits sollen nachhaltige Mobilität gefördert und die Standortqualität gewährleistet werden, andererseits müssen negative Folgen wie Verkehrs- und Kostenzunahme im Rahmen bleiben.
Auch hier wird deutlich, wie wichtig bei Massnahmen der Blick auf das Gesamtsystem ist. Die verbindliche Abstimmung von Massnahmen unterschiedlicher Politikbereiche und regionaler Ebenen ist essentiell. Ansonsten entstehen Siedlungsstrukturen mit ihrem Verkehrsaufkommen als Zufallsprodukt aus Steuerpolitik und Baulandausweisung.
Nicht nur ÖV-Benutzer sollen stärker zur Kasse gebeten werden, auch Autofahrer müssen tiefer in die Tasche greifen, um die Kosten für Betrieb, Unterhalt und Ausbau des Nationalstrassennetzes zu finanzieren. Mit einer Verdoppelung des Vignettenpreises und einer Erhöhung des Mineralölsteuerzuschlags will der Bundesrat eine Finanzierungslücke verhindern. Hätten Sie alternative Vorschläge zu diesem Modell?
Will man Mobilität finanzierbar machen und steuern, müssen die Preisentwicklungen für MIV und ÖV unbedingt aufeinander abgestimmt werden – sonst kommt es zu Ausweicheffekten. Vor diesem Hintergrund sind die Massnahmen notwendig. In der Schweiz besteht auch noch Potenzial in einer leistungsabhängigen Besteuerung von PKW.
Wäre das von economiesuisse geforderte Mobility Pricing für Strassen- und Schienenverkehr eine Finanzierungslösung?
Das kann ein Teil der Lösung sein. Jedoch sollte man es nicht dabei belassen, sich nur auf Finanzierung zu konzentrieren; das löst die Verkehrsproblematik nicht. Unser heutiges Leben beruht auf Strukturen, die man nicht nur zugelassen sondern begünstigt hat. Wenn man sich jetzt um Finanzierungslücken kümmert und den Rest ausser Acht lässt, wird man morgen neue Probleme haben – nur andere. Die Preise erhöhen und es den Menschen überlassen, in den alten Strukturen irgendwie zurecht zu kommen, ist nur die halbe Lösung. Es müssen auch Alternativen geschaffen werden: nachhaltige Verkehrskonzepte für die Zukunft. Nachhaltige Mobilität bedeutet hierbei ökologisch verträglich, aber auch gesellschaftlich lebbar und wirtschaftlich tragfähig.
«Unser heutiges Leben beruht auf Strukturen, die man nicht nur zugelassen sondern begünstigt hat. Wenn man sich jetzt um Finanzierungslücken kümmert und den Rest ausser Acht lässt, wird man morgen neue Probleme haben – nur andere.»
Die grossen Zentren wie Zürich haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Wie gross ist der Einfluss der Verkehrsinfrastruktur auf die Wirtschaftskraft und Attraktivität?
Eine gute Verkehrsanbindung ist ein wesentlicher Standortfaktor für Wettbewerbsfähigkeit. In der Schweiz ist das System auf hohem Niveau ausgebaut, gerade im internationalen Vergleich. Die Herausforderung ist, die Funktionsfähigkeit des Systems zu erhalten. Die dynamische Wirtschaftsentwicklung und das rasante Bevölkerungswachstum haben in den letzten Jahren der Verkehrsentwicklung zusätzlichen Schub verliehen.
Wie stark leiden auf der anderen Seite Randregionen darunter, dass Fachkräfte tagtäglich in attraktive Wirtschaftsregionen pendeln?
Ich glaube, diese Frage sollte man anders herum stellen. Wie stark würden Randregionen darunter leiden, wenn Fachkräfte nicht in attraktive Wirtschaftsregionen pendeln könnten? Sie würden einen Teil ihrer Wohnbevölkerung verlieren. Problematischer ist aus meiner Sicht für diese Regionen zur Zeit, dass Unternehmen häufig keine Fachkräfte finden, die zuziehen oder zupendeln wollen.
Wie ist der Einfluss des Verkehrs auf die Besiedlung der Schweiz generell einzustufen?
Verkehr ermöglicht die Ausweitung der Besiedlung von den Arbeitsmarktzentren ausgehend. Umgekehrt erzeugt starke Besiedlung am Rand der Agglomerationen auch einen Druck, den Verkehr weiter auszubauen. Ursache und Wirkung lassen sich nicht eindeutig unterscheiden; deswegen ist es so wichtig, Raum- und Verkehrsplanung aufeinander abzustimmen.
Die Schweiz leidet unter der Zersiedelung. Für einen nachhaltigeren Umgang mit dem knappen Boden haben Bund, Kantone und Gemeinden das «Raumkonzept Schweiz» ausgearbeitet. Kernstück ist der Vorschlag, in zwölf überregionalen Räumen zu planen und handeln – in vier grossstädtischen, fünf klein- und mittelstädtischen und drei alpinen. Wäre dies bei guter Abstimmung von Siedlungs- und Verkehrsplanung ein Weg, die Verkehrsströme in den Griff zu bekommen?
Verkehrs-, Siedlungs- und auch Steuerpolitik wirken zusammen auf die räumliche Entwicklung der Schweiz. Der Wunsch nach mehr Koordination und dem gemeinsamen Planen für übergeordnete Ziele ist nicht neu. Allein die Umsetzung ist bislang nicht konkretisiert worden, weil sie der ausgeprägten Regionalautonomie gegenüber steht. Ein gesamtgesellschaftliches Ziel zu verfolgen bedeutet, dass man hin und wieder auf die Realisierung individueller Wünsche verzichten muss. Die Vorschläge im „Raumkonzept Schweiz“ greifen den Wunsch und die Notwendigkeit nach gemeinsamer Planung auf und präzisieren sie. Für die Umsetzung wird ein Vorschlag für räumliche Abgrenzungen gemacht. So weit, so gut. Wirksam kann das Konzept erst werden, wenn die Beteiligten sich dazu bekennen – und zwar nicht nur in Form einer schmerzlosen Formulierung von Zielen sondern auch in der Bereitschaft zur Umsetzung. Dies bedeutet, positive wie negative Konsequenzen zu tragen.
Das Institut für Nachhaltige Entwicklung an der ZHAW forscht im Bereich der nachhaltigen Mobilität. Über die aktuellen Problemstellungen hinaus: Welche Entwicklungen zeichnen sich ab?
Der Preis für Mobilität wird auch unabhängig von politischen Massnahmen steigen, denn Energie wird teurer. Wir brauchen neue Lösungen, es müssen Alternativen geschaffen und neue Wege für Mobilität gefunden werden. Es muss den Menschen möglich sein, mit weniger Fahrtaufwand Leben und Arbeiten zu vereinbaren; Mobilität muss energieeffizienter und emissionsärmer werden. Wir befinden uns hier an einer Schwelle zum Wandel und für die Schweiz besteht eine Riesenchance. Das Land ist nicht zu gross, der ÖV ist gut ausgebaut und breit akzeptiert. Eigentlich eine hervorragende Ausgangsposition, um zu einem Modellland für moderne nachhaltige Mobilität zu werden. Konzepte und Technologien für diese Richtung sind teils vorhanden, teils am Entstehen. Sie aufzuzeigen und für Planung und Strategieentwicklung anwendbar zu machen, sehen wir als unsere Aufgabe an.
Frau Hoppe, herzlichen Dank für das Interview.
Zur Person:
Aus- und Fortbildung
Dr. rer. nat. Philipps-Universität Marburg
Studium der Geographie, Meteorologie und Publizistik Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Beruflicher Werdegang:
seit 10/2010 Institut für Nachhaltige Entwicklung an der ZHAW
2006 – 2010 Economic Research Credit Suisse, Zürich
2000 – 2006 Fachbereich Geographie der Philipps-Universität, Marburg
2001 – 2004 EU-Projekt „Competitive Metropolises. Economic Transformation, Labour Market and Competition of European Agglomerations”, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Zur ZHAW:
Die ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ist im Herbst 2007 aus dem Zusammenschluss der Zürcher Hochschule Winterthur (ZHW), der Hochschule Wädenswil (HSW), der Hochschule für Angewandte Psychologie Zürich (HAP) und der Hochschule für Soziale Arbeit Zürich (HSSAZ) entstanden. Standorte sind Winterthur, Zürich und Wädenswil. Durch ihre regionale Verankerung ist die ZHAW eine der grössten und leistungsstärksten Mehrsparten-Fachhochschulen in der Schweiz mit nationaler und internationaler Ausstrahlung. Zum Markenzeichen der ZHAW gehören Interdisziplinarität und Praxisbezug. Stichworte dazu sind positive Impulse durch Zusammenarbeit über Grenzen von Fachbereichen hinaus sowie eine überdurchschnittlich hohe Berufsbefähigung der Absolventinnen und Absolventen.
Seit dem Herbstsemester 2010/11 sind an der ZHAW über 9000 Studierende in insgesamt 24 Bachelorstudiengängen und 11 konsekutiven Masterstudiengängen immatrikuliert. Die Hochschule bietet aber auch ein grosses Weiterbildungsangebot mit u.a. über 30 Weiterbildungs-Masterstudiengängen an. Die rund 30 Institute und Zentren der ZHAW bearbeiten vernetzt Forschungs-, Dienstleistungs- und Beratungsaufträge mit externen Partnern aus Industrie, Wirtschaft und Verwaltung.