Martin Zenhäusern: Wandel IV ? Die Zukunft der Schweiz

Ein deutscher Schriftsteller hat einmal gesagt: «Über die Zukunft reden wir morgen.» Wir wollen versuchen, dies bereits heute zu tun, denn «mich interessiert vor allem die Zukunft, denn das ist die Zeit, in der ich leben werde,» wie es Albert Schweitzer treffend formuliert hat. Wir wollen die Zukunft der Schweiz aus unterschiedlichen Blickwinkeln näher beleuchten.


Nehmen wir den europäischen Kontext: Die Schweiz ist das einzige Land, das den Anforderungen des europäischen Stabilitätspaktes gerecht wird, da ihre Gesamtverschuldung weniger als 60% des BIP beträgt. So gesehen müsste die EU der Schweiz beitreten beziehungsweise deren Aufnahmekriterien zuerst einmal erfüllen. Nur ist die EU bei Lichte betrachtet keine Option. Blenden wir zurück: Im März 2000 hat die EU die sogenannte Lissabon-Agenda verabschiedet, welche zum Ziel hatte, die Europäische Union innerhalb von zehn Jahren ? also bis 2010! ? zum wettbewerbfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Sie hat ihre Ziele nicht erreicht. Hier hat der Berg eine Maus geboren. Die EU hat es zudem nicht geschafft, sich eine klare und durchsetzbare Verfassung zu geben, die die Grundlagen der Währungs- wie der politischen Union eindeutig geregelt hätte.


Den Benchmark inmitten Europas eliminieren?
Da die EU ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat, besteht durchaus die Gefahr, dass die Schweiz zur idealen Zielscheibe des europäischen Neides und Unmuts wird, wie Konrad Hummler kürzlich in der «NZZ» geschrieben hat, um damit von der eigenen und selbstverschuldeten miserablen Situation abzulenken. Einen Vorgeschmack haben wir mit der Auseinandersetzung um das schweizerische Bankgeheimnis bereits erhalten. Hummler schliesst nicht aus, dass dies nur ein Vorspiel sein könnte zu einem viel weiter reichenden Versuch, die Schweiz als lästigen Benchmark inmitten Europas zu eliminieren. Die Schweiz werde sich deshalb wohl rascher als erwünscht entscheiden müssen, wie europäisch oder wie global sie sein wolle. Darauf kommen wir zurück.


Sehenden Auges blind
Parallelen zwischen wirtschaftlichen Systemen und politischen Konstrukten sind augenfällig, wenn wir für einen Augenblick noch bei der EU und dem Euro verweilen wollen. Obwohl Griechenland vorläufig «gerettet» worden ist, wird damit die Ursache des Problems nicht gelöst. Die Ursache liegt nämlich darin, dass Griechenland innerhalb der EU «too big to fail» ist. Die damalige Aufnahme Griechenlands ohne strikte Kontrolle des Finanzhaushaltes war ein Fehler. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Weil die EU nicht in der Lage war und ist, wirkungsvoll zu handeln, ist sie «too big to function». Hart formuliert könnten wir festhalten: Sie ist in mehrfacher Hinsicht eine Fehlkonstruktion. Bei allen Verdiensten der EU um den europäischen Frieden und einer gewissen Prosperität dürfen wir nicht ausblenden, dass die EU-Führung immer wieder die Realität ausgeblendet hat nach dem Motto: Was man nicht sieht, existiert nicht. Augen zu und durch! Und dabei direkt an die Wand gefahren.



Die Kleinen sind spitze 
Warum sind eigentlich kleine Nationen innovativer als grosse? Diese Frage ist mehr als berechtigt, wenn wir die aktuellen Innovations-Ratings analysieren. Die Schweiz nimmt verschiedentlich die Spitzenposition ein (beim European Innovation Scoreboard vor Schweden und Finnland; beim WEF World Competitiveness Index vor den USA, Singapur und Schweden). Beim IMD World Competitiveness Ranking liegt die Schweiz hinter den USA, Hongkong und Singapur auf dem vierten Platz. Mit Ausnahme der USA sind es also kleinere
Länder, die an der Spitze stehen. Wenn bei den USA im Übrigen der innovationsstarke Bundesstaat Kalifornien «herausgerechnet» würde, dann wäre die USA wesentlich weiter hinten klassiert. In einem Innovations-Ranking der DIW Berlin (das grösste deutsche Institut für Wirtschaftsforschung) steht die Schweiz klar an der Spitze, vor Japan und Schweden. Was jedoch interessanter ist, ist die Tatsache, dass die kriselnden Länder wie Italien und Spanien weit abgeschlagen auf den hintersten Plätzen folgen. Es braucht deshalb nicht viel Fantasie und hellseherische Fähigkeiten, und voraussehen zu können, dass diese Länder sehr schwierigen Zeiten entgegen sehen. Und dass die innovationsstarke Schweiz über gute Chancen für eine erfolgreiche Zukunft verfügt.


Versuchen wir eine Antwort auf die gestellte Frage zu finden: Kleine Länder sind wohl deshalb innovativer, weil sie über intakte und überschaubare Strukturen sowie eine hohe Leistungsorientierung verfügen. Weil die Entscheidungswege relativ kurz sind und die soziale Einbindung mehrheitlich gewährleistet ist. Weil der Wissenstransfer zwischen Unternehmen und Hochschulen gut ist und ein hohes Bildungsniveau die Innovationskraft und den sprichwörtlichen Pioniergeist fördert. Zudem schaffen ein fester rechtlicher Rahmen sowie berechenbare Steuern ein hohes Mass an Sicherheit. Was die Schweiz besonders ausgezeichnet hat, ist erstens ihre ausgeprägte wirtschaftliche Aussenorientierung, die aufgrund des kleinen Binnenmarktes viel früher als bei vielen grossen Nationen gepflegt wurde sowie zweitens die Stärke, eine Vielzahl von Menschen unterschiedlichster Herkunft zu integrieren, ohne dabei den sozialen Frieden zu gefährden.


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Eurasien schrumpft ? Amerika wächst
Diese Stärken werden der Schweiz in den nächsten Jahren sehr zugute kommen, weil sie aufgrund der demographischen Bewegungen zu den Gewinnern zählen wird. Dies kann an einem Beispiel, das der deutsche Professor Gunnar Heinsohn kürzlich präsentiert hat, illustriert werden. Er stellt dabei die Frage, wer mehr Menschen für Innovation und damit auch für wirtschaftliche Prosperität zur Verfügung hat: Eurasien oder Nord-Amerika. Stellen wir diese beiden Wirtschaftsräume einander gegenüber: In Eurasien beträgt die Geburtsrate im Schnitt 1,2 bis 1,3 Kinder pro Frau, in den USA 2,1. Alle Nationen Eurasien leiden an einer starken Abwanderung von Talenten. Alleine China verliert jedes Jahr rund 600’000 gut ausgebildete Spezialisten an andere Nationen. Demgegenüber verzeichnen die USA eine starke Einwanderung von Talenten. Bereits sind 5% der Einwohner Ostasiaten, welche 30% der Computerjobs besetzen. Ostasiaten verfügen nachweislich über besonders ausgeprägte mathematische Fähigkeiten.


Die Bevölkerung Europas wird bis zum Jahre 2050 von heute etwa 480 auf 340 Millionen Menschen sinken, gleichzeitig wird das Durchschnittsalter von 40 auf 50 Jahre ansteigen. Im gleichen Zeitraum wird die Bevölkerung der USA von heute 300 auf 440 Millionen ansteigen. Das heisst also: Bis 2050 verliert Europa rund 140 Millionen Menschen, die konsumieren, erfinden und arbeiten könnten. Die USA gewinnen im gleichen Zeitraum 140 Millionen Menschen, die konsumieren, erfinden und arbeiten werden. Europa, als eine einzelne Person betrachtet, wird demzufolge älter, kleiner, schuldenreicher und dümmer.


Die Schweiz wird jünger und klüger
Und was passiert in der Schweiz? Die Schweiz kann aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke und ihrer Lage profitieren, mehr noch als bisher. Sie wird für viele gut ausgebildete Menschen zu einem attraktiven Ziel. Trotz schwacher eigener Geburtsrate wird die Schweiz sich verjüngen können. Sie wird weniger schnell älter als die umliegenden Länder, was sich wiederum positiv auf die Altersvorsorge auswirkt. Wichtig dabei ist, dass die Schweiz den Fokus bei der Zuwanderung nicht nur auf die EU und EFTA-Länder legt, sondern sich global öffnet. Wenn Chinesen oder Inder in der Schweiz studieren, sollten sie nach Abschluss des Studiums auch in der Schweiz verbleiben können, wenn die Wirtschaft sie benötigt. Dann könnte die Schweiz vom Wandel ähnlich profitieren wie dies Kanada getan hat. Durch die internationale Einwanderung, vornehmlich aus Asien, hat sich der Landes-IQ Kanadas nachweislich erhöht .


Europäisch und global
Kommen wir auf die Frage zurück, wie europäisch oder wie global die Schweiz sein wolle. Meiner Meinung nach muss sie beides tun: Sie muss ihren Platz und ihre Position in Europa finden, in einem Europa, von dem wir nicht wissen, mit welcher politischen und wirtschaftlichen Statur es sich künftig präsentieren wird. Sie muss zudem global tätig sein, und sich noch stärker als bisher in wichtigen Märkten positionieren. Auf der politischen Ebene bedingt dies, dass sie über einen Bundesrat verfügt, der als starkes Kollegium funktioniert. Dies bedingt, dass sie sich mit einem erfahrenen, auf mehrere Jahre gewählten Bundespräsidenten weltweit ein politisch glaubwürdiges Gesicht gibt. Dies bedingt auch, dass die Parteien von ihrem kleinkarierten Gezänk wegkommen und sich endlich wieder auf ihre Aufgabe als gewählte Volksvertreter besinnen.


Dies bedingt auf der wirtschaftlichen Ebene, dass sie als Marke Schweiz weltweit pointiert und selbstbewusst auftritt. Dass sie auf ihre Steuerhoheit pocht. Dass sie die wirtschaftlichen und administrativen Rahmenbedingungen laufend verbessert. Dies bedingt, dass sie die Swissness dort ausspielt, wo sie damit punkten und Reputation schaffen kann. Dass sie sich gleichzeitig als Nation mit traditionellen Werten und einer ausgeprägten Modernität darstellt. Die Schweiz verfügt über diese Stärken und Eigenheiten ? sie muss also nichts erfinden oder behaupten. Sie muss es nur tun!


Das Visier neu justieren
Die Schweiz verfügt über beste Voraussetzungen, beim anstehenden Wandel zu den Gewinnern zu gehören, allen geschilderten Herausforderungen zum Trotz. Wichtig erscheint, dass die eidgenössisch diplomierten Bedenkenträger in Zukunft etwas leiser werden und die vielen Leistungsträger sich mehr Gehör verschaffen. Dass die Miesmacher mal eine Auszeit nehmen und die Macher die Beachtung finden, die heute den wenigen, prominenten Versagern zuteil wird. Es geht darum, dass wir die Prioritäten wieder richtig setzen und unser Visier neu justieren. Dass wir mehr in Lösungen denken und diese öffentlich diskutieren, anstatt polemisch und parteiisch an anderen herumzumäkeln.


Es wäre schon vieles gewonnen, wenn wir den Grundsatz beherzigen würden, den der englische Dramatiker Noel Coward so schön formuliert hat: «Die Kritik an anderen hat noch keinem die eigene Leistung erspart.» Wir haben Leistung erbracht und tun dies auch heute. Wie wir auch in Zukunft Leistung erbringen können ? darauf sollten wir den Fokus legen.


Zustimmung? Andere Meinung? Kritik? Ergänzung?
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Martin Zenhäusern
Martin Zenhäusern ist Ratgeber für Führungskräfte und Unternehmen. Seine Schwerpunkte sind Kommunikation, Führung, Change- und Krisen-Management. Der Orell Füssli Verlag schreibt über ihn: «Als Berater von Entscheidungsträgern aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur hat er ein feines Gespür für Veränderungen entwickelt, die zuerst nur hinter vorgehaltener Hand besprochen werden, bevor sie plötzlich und wie selbstverständlich zum breit diskutierten öffentlichen Thema werden» Autor von ?Warum tote Pferde reiten? Wie uns die Net-Generation zwingt umzusatteln?; ?Chef aus Passion? usw. Martin Zenhäusern ist Gründer und Inhaber der Zenhäusern & Partner AG sowie der Zenhäusern Akademie AG, beide in Zürich.. www.zen-com.com  , www.zenhaeusern.ch .

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