Europäische Werte im globalen Dorf

Sind unsere Vorstellungen von Recht, Fairness und Menschenwürde universalisierbar? Mit welchen Waffen verteidigen wir welche Werte? Welche Werte bestimmen die globalisierte Welt von morgen? Mit diesen und weiteren Fragestellungen beschäftigten sich am 13./14. November wichtige Meinungsmacher und interessante Persönlichkeiten aus allen Bereichen der Zivilgesellschaft in Ermatingen TG. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer führten dabei in verschiedenen Arbeitsgruppen einen Dialog ? zivil sowohl in seiner Streitkultur als auch in seiner inhaltlichen Ausrichtung. Umrahmt wurde das Kolloquium von zwei Plenarsitzungen und drei Hauptreferenten, Philosoph Prof. Otfried Höffe, Schriftstellerin Lulu Wang und Wolfgang Clement.


Scharfsinnige Analyse von Wolfgang Clement 
Der Wirtschaftsminister (2002-2005) der Regierung Schröder verortete in seiner Rede «Wert der Werte im Wandel der Wirtschaft» die tiefere Ursache der Finanzkrise in der Masslosigkeit der letzten Jahre. Politisch habe eine Rückdrängung der Eigenverantwortung und Eigeninitiative durch die Staatswirtschaft stattgefunden. Entsprechend hätten Risikobereitschaft und Unternehmertum teilweise in übersteigertem Egoismus gemündet, der sich allzu leicht in Gier versteigt. Die Bankenwelt müsse sich heute Vorwürfe gefallen lassen und habe bis jetzt kaum brauchbare Vorschläge zur Vermeidung künftiger Crashs unterbreitet. Die Funktionsfähigkeit der Banken sei ein öffentliches Gut ? was nicht etwa heisse, dass Verstaatlichung das richtige Rezept sei. Staatswirtschaft müsse die Ausnahme sein. Auch sei nicht mehr Regulierung gefragt. Gefragt sei die richtige und effiziente Regulierung.


Gemeinwohl geht vor Eigennutz – auch im globalen Dorf
Gemeinwohl müsse auch im globalen Dorf vor Eigennutz gehen. Vertrauen und Verlässlichkeit – so Clement ? seien für das Funktionieren der Finanzmärkte zentral. Im Fokus stehen in diesem Zusammenhang etwa die Rating-Agenturen. Für sie sieht Clement die Form der öffentlichrechtlichen gemeinnützigen Stiftung. Zu den Boni-Praktiken äusserte sich der ehemalige Minister deutlich: Da wurde und werde noch Freiheit in unverantwortlicher Weise für sich in Anspruch genommen. Die variablen Vergütungsteile sollten ? immer ohne Garantie der Ausschüttung ? den kleineren Teil einer Jahresvergütung ausmachen. In Deutschland habe bis in die 70er Jahre die nachvollziehbare Faustregel gegolten, dass die Vorstandsvergütung das 40-fache einer Fachkraftentlöhnung in der entsprechenden Branche nicht übersteigen sollte. Von dem sei man heute meilenweit entfernt. Auch der Verweis auf den internationalen Wettbewerb rechtfertige keine Exzesse, äusserte sich pointiert der frühere Ministerpräsident des grössten Deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen.


Politik stellt sich moralischen Fragen nicht
Von der Kritik nahm Clement aber auch die Politik nicht aus. Auch dort galt allzu lange die unendliche Vermehrung geldwerter Leistungen, fast für alle und für jeden. Griffige beschränkende Verschuldungsstandards für Bund und Länder seien dringend nötig und müssten konsequent eingehalten werden. Das neue deutsche Verfassungsrecht mache hier unmissverständliche Vorgaben. Das notorisch Schwierige an der Politik sei, dass sie erst dann energisch handle, wenn sie mit dem Rücken an der Wand stehe.


Soziales Verhalten kann nicht von oben verordnet werden  
Willy Brandt ? so der ehemalige SPD-Politiker Clement – schrieb kurz vor seinem Tode seiner Partei: Von allen menschlichen Grundwerten sei ihm die Freiheit zuletzt der Liebste geworden. Das sozial-liberale Credo Clements lautet: Das Band des sozialen Zusammenhaltes gehört als Ausgleich zur Freiheit dazu. Soziales Verhalten müsse allerdings ursprünglich aus freiwilliger Einsicht entstehen und aus Eigenverantwortung erfolgen und nicht bloss auf Verordnung von oben. Das Problem bestehe heute darin, dass sich zu wenige Exponenten aus Politik und Wirtschaft den moralischen Fragen ökonomischen Handelns stellen würden. Viele Menschen gäben darum darauf ihre eigenen Antworten, die aber ? wen wundert?s – mehrheitlich nicht dem freiheitlich marktwirtschaftlichen Credo entsprächen. (verein zivilgesellschaft/mc/ps)


Über den Verein Zivilgesellschaft
Im 1996 gegründeten Verein Zivilgesellschaft haben sich Exponenten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zusammengefunden, um gemeinsam einen Diskurs innerhalb der Gesellschaft zu initiieren. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, eine zivile Streitkultur nicht nur zu fördern, sondern auch als Basis für eine friedfertige Austragung sozialer Herausforderungen zu propagieren: Hinhören, was andere sagen, offen sein für Debatten und den Mut haben zu unkonventionellen Ideen ? diesem Leitmotiv möchte der Verein folgen.

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