Kunsthaus Zürich: Georges Seurat – Figur im Raum

Wo nichts war als Licht und Atmosphäre schuf Georges Seurat rationale Dialoge zwischen Figuren und dem sie umgebenden Raum. Von dieser Leistung zeugen die rund 70 hochkarätigen Gemälde und Zeichnungen, die aus bedeutenden öffentlichen und privaten Sammlungen aus London, Paris, New York und Washington den Weg ins Kunsthaus Zürich gefunden haben.



Erfinder des Pointilismus


Georges Seurat (1859-1891) zählt neben Paul Cézanne, Vincent van Gogh und Paul Gauguin zu den «Vätern» der modernen Kunst. Und er ist der originellste unter denen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert die Avantgarde Frankreichs bildeten. 1859 in Paris geboren, hat Seurat bis zu seinem frühen Tod mit 31 Jahren den Impressionismus theoretisch untermauert: Angeregt durch die wichtigen Erkenntnisse der neuen Farbtheorien begann er, schematisch gesetzte, reine Farbpunkte nebeneinander auf die Leinwand zu setzen.



Georges Seurat, A l’Ombre et au soleil: Étude pour ?Un dimanche à la Grande Jatte?, 1884-85



Die Farben


würden sich erst ? und dies war seiner Auffassung nach hinreichend ? im Auge des Betrachters mischen. Mit diesem so genannten «Pointillisme» inspirierte er bald auch andere Kunstschaffende, die die Vorzüge dieser Technik erkannten: Individuell geprägte Pinselstriche wichen systematisch gemalten Tupfen, die mit hohem Arbeitsaufwand akribisch nebeneinander gesetzt wurden und die Leinwand wie ein Netz bedeckten. Nicht mehr der künstlerische Ausdruck zählte, sondern das Auge, das scharfsinnig und geschult sein musste, um die angestrebten optischen Effekte zu erreichen.



Georges Seurat, Casseur de pierres à la brouette, Le Raincy, 1882



Figur und Raum


Anders als Vincent van Gogh war Georges Seurat bereits zu Lebzeiten ein geschätzter Künstler. Van Gogh und Gauguin waren wie viele Maler ihrer Generation von Seurats Farbpalette und Technik fasziniert. Später schwärmten insbesondere die Künstler des Bauhauses von seinen ungewöhnlichen Bildkompositionen und den Geometrisierungen der Figuren wie auch der Landschaft.
Dieser Umgang mit der Figur im Raum ist ein wichtiger Aspekt in Seurats Karriere und das zentrale Thema der Ausstellung. Die Präsentation umfasst sowohl das grafische wie auch das malerische Werk des französischen Künstlers. Für ihn, so lässt sich Seurat zitieren, sei das Motiv nur zweitrangig gewesen. Doch ist sein grosses Interesse an der Figur für die Betrachter seiner Bilder und die Kunstwissenschaft augenfällig. Titel wie zum Werk «L?homme couché» (1883-84) aus der Fondation Beyeler oder «Dame au bouquet, de dos» (1882-83) aus einer anderen Schweizer Privatsammlung, stützen diese These. Nüchtern und in streng kalkulierten Kompositionen hat Seurat die damalige Gesellschaft festgehalten. Zwar variierte er eine Gestalt zuweilen, «zoomte» sie heran oder hielt sie in unterschiedlichen Kombinationen mit anderen Personen fest ? doch beliess er es immer dabei, sie als einzelne und isoliert wirkende Figur darzustellen, die manchmal sogar parodistische Züge aufweist. Seine Farbpalette ist von vornehmer Zurückhaltung. Der Betrachter konstatiert eine angenehme Ausgewogenheit ? die zur Ruhe zwingen will und gleichzeitig den Sehsinn herausfordernd anregt. Ein leises Vibrieren ist spürbar in den Szenerien bedeutender Ölstudien wie «Étude d?ensemble pour ?Un Dimanche à la Grande Jatte?» (1884) aus dem Metropolitan Museum of Art, New York, «Promenade matinale: Étude pour ?La Seine à Courbevoie?» (1885) aus der National Gallery, London, oder in «A l?Ombre et au soleil: Étude pour ?Un Dimanche à la Grande Jatte?» (1884-85), einer Leihgabe der Stiftung Sammlung E.G. Bührle, Zürich.



Vom Eifelturm bis zu den Landschaften Frankreichs


Seurat begann mit Zeichnungen und gab dieses grafische Arbeiten nie auf. Schon seine Akademiestudien zeigen die intensive Auseinandersetzung mit der menschlichen Gestalt, und in späteren Zeichnungen erreichte er ein bemerkenswertes Gleichgewicht zwischen Gegenstandsbezug und Autonomie der künstlerischen Mittel: Bleistiftstriche überziehen das Papier als dichtes Geflecht und lassen das Motiv als etwas Schwebend-Unbestimmtes hervortreten beziehungsweise verschwinden. Die markanten Hell-Dunkel-Kontraste umspielen und akzentuieren die Figuren und verleihen ihnen eine unwirkliche Präsenz, wie das Beispiel «Au Concert Européen» (1886-88) aus dem Museum of Modern Art, New York, aufzeigt. Auch in den Gemälden nimmt die Darstellung von Personen im Raum eine zentrale Stellung ein. Mit dem grossartigen «Le Cirque» (1890-91) aus dem Musée d?Orsay in Paris wird ein weiteres, spektakuläres Hauptwerk in der Ausstellung gezeigt.
An Werken wie «Le Jardinier» (um 1882), aus der Sammlung des Kunsthaus Zürich oder «Casseur de pierres à la brouette, Le Raincy» (1882), aus der Phillips Collection, Washington, wird eine Schnittstelle in Seurats Schaffen sichtbar. Orientierte sich der Künstler zunächst an Gruppierungen wie der École de Barbizon, an Epochen wie der Renaissance oder Kollegen wie Puvis de Chavannes, setzte er dann plötzlich die Sujets in einer neuen Maltechnik und in innovativen Kompositionen um. Dieses avantgardistische Ausbrechen wird noch verstärkt, wenn in den späteren Werken Formen und Sujets im selben Gemälde wiederholt oder variiert werden. Indem er den Bildraum und die in ihn hineingestellten Figuren geometrisiert erscheinen lässt, beweist Seurat nach der Erfindung der Tupfen-Technik ein weiteres Mal sein avantgardistisches Talent, z.B. am strahlenden «La Tour Eiffel» (1889), der vom Fine Arts Museums aus San Francisco nach Zürich ausgeliehen wird. Künstler wie die italienischen Futuristen, Fernand Léger oder Le Corbusier haben mit Begeisterung an das Werk des Pointillisten angeknüpft und Seurats wissenschaftlich getriebene Dynamik ins 20. Jahrhundert überführt. (kh/mc/th)



Georges Seurat, La Tour Eiffel, ca. 1889, Öl auf Holz, 24,1 x 15,2 cm, Fine Arts Museums of San Francisco,

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