Martin Zenhäusern: Verbinden
Betrachten wir kurz die häufigsten Dualitäten: Nach dem Fall der Mauer ist der Sozialismus für tot erklärt worden. Der Kapitalismus, häufig auch mit freiem Markt gleichgesetzt, hat genau zu diesem Zeitpunkt eine erstaunliche Wendung genommen: Der Wegfall des Sozialismus und das Ende des Kalten Krieges haben neuen Salärsystemen und Business-Modellen gleichsam den Weg gebahnt. Da die Angst vor dem grossen ideologischen und vermeintlich auch wirtschaftlichen Gegner wegfiel – eine Angst, die häufig auch als Korrektiv gegenüber Auswüchsen diente -, ist nach und nach über die Stränge geschlagen worden, bis die Exzesse zum Desaster geführt haben, sprich zur aktuellen Weltwirtschaftskrise, die noch längst nicht ausgestanden ist. Ob die verantwortlichen Manager, die den Kapitalismus egozentrisch und rücksichtslos ausgestaltet und damit pervertiert haben, über die Kraft und vor allem den Willen verfügen, die Suppe auszulöffeln, die sie der globalen Gesellschaft ohne Not eingebrockt haben, ist sehr zu bezweifeln. Entweder suchen sie sich geeignete Sündenböcke – besonders beliebt ist das System, das die Malaise verursacht habe, als wenn nicht hinter jedem System Menschen stehen würden! – oder sie bringen kleine Retuschen an in der Hoffnung, damit Zeit zu gewinnen, bis wieder der Courant normal eintritt und alles seine gewohnten Bahnen geht.
Macht und Ohn-Macht
Wer hat die Macht? Derjenige, der entscheidet. Wer ist ohn-mächtig, also ohne Macht? Derjenige, der Entscheide ohne Möglichkeit der Mitsprache umsetzen und im schlimmsten Fall sogar ausbaden muss. Die Mächtigen haben die Tendenz – das ist historisch zu allen Zeiten nachprüfbar – wohl die Kompetenz für sich zu beanspruchen, nicht jedoch die damit verbundene Verantwortung wahrnehmen zu wollen. Kurz: Wer in der Finanzindustrie entschieden hat, tat dies, ohne die Verantwortung zu übernehmen. Also: Entscheiden ohne Haftung. Und häufig ohne Gewähr, was die Qualität betraf. Die These der Herren Karl Reichmuth und Beat Kappeler in ihrer Publikation Weg aus der Finanzkrise, dass Entscheid und Haftung wieder zusammengeführt werden müssen, kann vorbehaltlos unterstützt werden. Die in den letzten Jahren mit zunehmender Tendenz gepflegte Dualität «Macht ohne Verantwortung» muss dringend überwunden werden durch die Verbindung von kontrollierter Macht mit persönlichem Verantwortungsbewusstsein.
Täter und Opfer
Ich habe es verschiedentlich betont: Jedes System, das auf Dauer mehr Verlierer als Gewinner hervorbringt, wird scheitern. Dank der modernen Informations-Technologie, welche real time ermöglicht, müssen solche Systeme zwingend scheitern, weil die Auswüchse nicht mehr schön geredet oder unter den (roten) Teppich gekehrt werden können. Obwohl dies immer wieder versucht wird. Ich hoffe, dass die vielen Verlierer, die ohne eigenes Verschulden die Zeche bezahlen, ihre nachvollziehbare Wut weiterhin so gemässigt wie bisher zum Ausdruck bringen und damit in der Krisenbewältigung einen (beileibe nicht selbstverständlichen) Kontrapunkt zum masslosen Egoismus der «Täter» setzen.
Hierarchie und Leistung haben häufig nichts miteinander zu tun
Wenn sich Kundenberater bei Grossbanken im persönlichen Gespräch beschweren, sie hätten es langsam aber sicher satt, sich ständig die Fehler ihrer Chefs vorhalten zu lassen, ist diese Reaktion mehr als verständlich. Auch wenn sie ihre Leistung erbringen und letztlich dafür sorgen, dass es trotz allem weitergeht, wird hier ein Dilemma sichtbar, das auch in der Management-Forschung längst schon kritisch behandelt worden ist: Hierarchie und Leistung haben oft wenig miteinander zu tun. In seiner Publikation Der Weg zu den Besten zeigt sich Jim Collins erstaunt darüber, dass Schlüsselpositionen so selten mit Level-5-Führungspersönlichkeiten besetzt sind. Level-5-Chefs zeichnen sich aus durch persönliche Bescheidenheit gepaart mit beruflicher Willenskraft. Sie sind unglaublich ehrgeizig; ihr Ehrgeiz gilt jedoch vor allem der Institution und nicht sich selbst. Und ihren Egoismus lenken sie auf das höhere Ziel, ein Spitzenunternehmen zu bauen, und nicht auf die schnelle Bereicherung. Denjenigen, die nur dank spitzer Ellenbogen nach oben gekommen sind, sei in ihr Stammbuch geschrieben: «Wenn Leistung und Funktion auseinanderklaffen, ist die Position auf Dauer nicht mehr zu halten.» Dieser Prozess wird mit dem zunehmenden Eintritt der Net-Generation in die Arbeitswelt – über zwei Milliarden Menschen weltweit – weiter verstärkt. Die Net-Generation lehnt Hierarchie ohnehin ab, da sie mit dem Prinzip der Gleichrangigkeit aufgewachsen ist.
Welche Chefs? Am besten die Besten!
Um etwas klar zu stellen: Die überwiegende Mehrheit der Führungskräfte und die Mehrheit der Unternehmen erfüllen ihre Aufgabe gut, und sie haben auch in den vergangenen Jahren gut gearbeitet. Gerade deshalb verdienen sie an der Spitze der Unternehmen, der Behörden und der Politik bessere Chefs – am besten die Besten. Es darf bei der Wahl der Spitzenkräfte nicht mehr zu einer Negativ-Selektion kommen, wie dies beispielsweise bei Bundesratswahlen immer wieder zu beobachten ist. Und ebenso muss die Zahl der Fehlbesetzungen in der Wirtschaft reduziert werden, indem Protektionismus und Nepotismus der Riegel geschoben und mehr Wert auf persönliche Einstellung und menschliche Qualitäten gelegt wird.
Verbinden und harmonisieren
Warum wird die Dualität an Einfluss verlieren und was tritt an ihre Stelle? Zum ersten: Die Dualität verliert an Bedeutung, weil sie unbefriedigende Resultate liefert, und dies seit längerer Zeit. Zum Zweiten: Weil mit Dualität die künftigen globalen Aufgaben nicht gelöst werden können. Das heisst: Es geht nicht mehr um Kapitalismus oder Sozialismus, mit allen dazugehörigen Nuancierungen, sondern darum, ein nachhaltiges Wirtschaftssystem zu schaffen, das erstens auf gesundem Egoismus beruht anstatt auf selbstzerstörerischem, das zweitens den langfristigem Profit anstrebt anstelle der kurzfristigen Gewinnmaximierung und das drittens Ressourcen rücksichtsvoll einsetzt anstatt sie zu verschwenden. Es braucht ein System, bei dem Macht und Haftung zusammengehören, und bei dem Verantwortungsgefühl und Verantwortungsbewusstsein zur Grundausstattung einer jeden Führungskraft gehören. Das heisst zudem, Abschied nehmen vom Täter-Opfer-Schema. Statt Täter zu sein oder Opfer zu werden, können und müssen wir Schöpfer werden, um unseren Teil zur neuen Ordnung beizutragen. Hierarchien werden an Bedeutung verlieren. Leistung und Funktion werden näher zusammenrücken. Künftig werden wir fragen: «Wer ist fähig?», statt: «Wer ist zuständig?».
Die Kaskade ist klar: Zuerst nachdenken, dann Lösungen erarbeiten und dann handeln. Und schon verändert sich die Realität. Wir haben es selbst in der Hand. So wie es der Aphoristiker Werner Mitsch festhielt: «Gibt es einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis? Es gibt ihn. In der Tat.»
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Martin Zenhäusern
Ratgeber für Führungskräfte. Im Oktober 2009 erscheint seine neue Publikation «Warum tote Pferde reiten? Wie uns die Net-Generation zwingt umzusatteln». Autor von «Chef aus Passion» und «Der erfolgreiche Unternehmer». Gründer und Inhaber der Zenhäusern & Partner AG, Zürich. www.zen-com.com.