Ulrich Tilgner, Korrespondent, Autor, Orient-Experte

Von Helmuth Fuchs

Moneycab: Herr Tilgner, der Amtsantritt von Barack Obama hat weltweit neue Hoffnung und den Wunsch nach Veränderung genährt. So erwartet man auch eine Neudefinition der Politik in den Krisenherden, wie zum Beispiel in Afghanistan. Was wäre Ihr Wunschszenario, wie sollte das Vorgehen der USA in Afghanistan aussehen?


Ulrich Tilgner: Mein Wunschszenarium wäre eine Art Überlegungsphase, die für intensive Gespräche mit allen Beteiligten, also auch den Taliban, genutzt würde und in der die Politik völlig neu überdacht wird. Das ist eine immense Aufgabe, die sich aus der politischen Distanz zwar einfach fordern, im Land selbst aber sehr schwer umsetzen lässt. In Afghanistan stehen Wahlen vor der Tür, bei der es verschiedene Tendenzen gibt.



«Der Westen übt sich in Flickwerk. Er schickt Soldaten, die als Aufbauhelfer beginnen und dann zu Kampftruppen mutieren, wie man am Beispiel der deutschen Soldaten sehr gut sehen kann. Da wird heute offiziell von Krieg statt von Aufbauhilfe gesprochen. All das muss völlig neu überdacht werden.» Ulrich Tilgner


Zum einen versucht der Präsident Hanid Karsai, sich an der Macht zu halten. Nur ist Karsai völlig unfähig. Er leitet eine vom Westen gestützte Regierung, die weltweit zu den korruptesten gehört.Zum andern gibt es die Taliban, die grosse Teile des Landes kontrollieren und nach der Macht greifen und nicht verstehen, weshalb sie zuerst von den USA unterstützt wurden und jetzt verteufelt werden. Und dann ist da noch Gulbuddin Hekmatyar, einst der  Kronprinz der USA im Kampf gegen die Sowjets und heute mit einem Kopfgeld von 25 Millionen US-Dollar gesucht, der gleichzeitig aber ihm nahestehende Minister in der Regierung hat. Sie sehen, wie verworren die Lage in Afghanistan ist. Die Staatseinnahmen waren im Jahre 2007 mit 700 Millionen US-Dollar in etwa gleich gross wie die Ausgaben für die Sicherheitsmassnahmen im selben Zeitraum.


Das alles sind Strukturen, die langfristig überhaupt nicht tragfähig sind. Und der Westen übt sich in Flickwerk. Er schickt Soldaten, die als Aufbauhelfer beginnen und dann zu Kampftruppen mutieren, wie man am Beispiel der deutschen Soldaten sehr gut sehen kann. Da wird heute offiziell von Krieg statt von Aufbauhilfe gesprochen. All das muss völlig neu überdacht werden. Es muss ein Konsens entstehen, jenseits von amerikanischem Druck und dem Versuch, mit immer gleicher Politik, die Lage zu retten. Die bisherige Politik wird scheitern oder einen so hohen Preis zur Folge haben, den man einer Gesellschaft, deren Wandel von aussen erzwungen wird, nicht abverlangen darf. Sie können nicht mit dem Einsatz von mehr als hunderttausend Soldaten und tausenden von Toten im Umfeld der Sicherheitsbehörde die verfahrene Situation retten. Die Afghanische Bevölkerung wird dies immer weniger akzeptieren. Sie wollen zwar die Demokratie, verlieren aber langsam die Hoffnung. Das führt in eine katastrophale Situation.


Wie bewerten Sie denn den Willen der westlichen Regierungen, diesen Wandel einzuleiten und auch über längere Zeit, vor allem politisch und weniger über militärische Drohungen oder wirtschaftliche Sanktionen, zu begleiten?


Ich glaube, der Westen ist hier in eine Situation hineingeschlittert, genau so wie die USA im Irak nach Saddam Hussein. Die Truppen waren dort und fanden sich in einer Situation, die so überhaupt nicht geplant oder vorausgesehen wurde. Der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld glaubte zum Beispiel im Jahr 2004, dass man die Truppen aus Afghanistan abziehen könne, weil die Ziele erreicht seien. In Wahrheit war noch gar nichts erreicht. Diese grandiosen Fehleinschätzungen haben dazu geführt, dass sich die Politik nicht produktiv entfalten konnte. Der grösste Mangel im Westen ist, dass diese Fehler der Politik nicht offen diskutiert und eingestanden werden. Das führt dazu, dass die Taliban, die einst weggelaufen sind und keine Basis in der Bevölkerung mehr hatten, heute wieder da sind. Sie rekrutieren junge Paschtunen und übernehmen immer mehr Verantwortung. Mit dem Argument, dass sie ihre Heimat verteidigen würden, wollen sie ein System durchsetzen, das die Afghanische Bevölkerung eigentlich nicht möchte, aber mangels Alternativen immer mehr zu akzeptieren bereit ist.



«Russland und China werden Alles mittragen, was den Iran isoliert, weil sich der Westen dann vom iranischen Markt verabschiedet. Auf der anderen Seite wird man aber Alles tun, um einen Krieg zu verhindern, weil dieser damit enden könnte, dass der Westen den Iran und vor allem seine Ressourcen kontrolliert.»


Ebenfalls wenig hilfreich ist dabei die immense Korruption und die fehlenden Erfolge der Aufbauarbeit trotz etwa 1’500 NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) in Kabul. Der Westen verschliesst vor diesen niederschmetternden Resultaten einfach die Augen. Die deutschen Diplomaten zum Beispiel wohnen auf dem Gelände der Botschaft und können sich in der Stadt nicht mehr frei bewegen. Und dabei sprechen sie sieben Jahre nach dem Sturz der Taliban unablässig von Erfolgen.


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Die weltweite Wirtschaftskrise, ausgelöst durch die Finanzkrise, dürfte die finanzielle Unterstützung des Westens für Afghanistan nicht eben erleichtern. Wie beurteilen Sie in dieser Situation die Rolle Russlands und Chinas, die beide fundamental andere Interessen als der Westen in dieser Region verfolgen werden?


Mit Sicherheit haben beide Staaten andere Interessen als der Westen. Was die Wirtschaftspolitik in der Region des mittleren Ostens anbelangt, herrscht hier  ein versteckter Wirtschaftskrieg. Die Ebenen dieses Krieges sind sehr komplex. Einfach gesagt hat Russland ein riesiges Interesse daran, dass die Rohstoffflüsse zum Beispiel aus Qatar und Iran eher in Richtung Osten gehen, um selbst den leichten Zugang nach Zentral- und Mitteleuropa zu haben. Das trifft im Besonderen auf den Gasbereich zu, wo Russland weltweit die grössten Reserven hat, aber auch auf  das Erdölgeschäft. Russland ist interessiert an einer gewissen Labilität in dieser Region, da es seinen Einfluss wieder ausdehnen möchte. Nach der einstigen Vertreibung der Sowjets aus Afghanistan wird Russland heute in einigen Teilen des Landes wieder positiv wahrgenommen. Die Probleme der Amerikaner nützen Russland und China. Beide möchten, dass die Kräfte der Amerikaner und ihrer westlichen Verbündeten gebunden werden, sie wollen nicht den Abzug, sondern einen durch dauernden Schwelbrand geschwächten Westen.


Dieses Vorgehen zeigt sich sehr gut am Beispiel des Irans. Russland und China werden Alles mittragen, was den Iran isoliert, weil sich der Westen dann vom iranischen Markt verabschiedet. Auf der anderen Seite wird man aber Alles tun, um einen Krieg zu verhindern, weil dieser damit enden könnte, dass der Westen den Iran und vor allem seine Ressourcen kontrolliert. Politische Spannungen jedoch, Wirtschaftskrieg, Sanktionen, werden Russland und China mittragen. Auf diese Weise ist China in der laufenden Krise zu Irans Handelspartner Nummer eins aufgestiegen.


Ein latentes Gefahrenpotenzial in dieser Gegend ist die atomare Aufrüstung. Indien und Pakistan sind im Besitz der Atombombe, der Iran ist auf dem besten Wege dazu. Wie beurteilen sie die Gefahren dieser Entwicklung, geht es nur um einen Platz am Tisch der Grossen oder um mehr?


Iran braucht in dieser Region, um seiner Dominanz Nachdruck verleihen zu können, solche Waffen. Das gebietet die Logik der Macht. Gleichzeitig ist es aber so, dass wenn Iran Atomwaffen besässe, in dieser Region ein enormes Wettrüsten beginnen würde. Dann müsste die Idee, dass Atomwaffen in unserer Zeit nicht mehr verbreitet werden, endgültig zu Grabe getragen werden. Indien und Pakistan haben sich schon nicht daran gehalten, Israel droht indirekt mit dem Einsatz der Bombe. Diese Konstellation können sie nur über eine regionale Beruhigung entschärfen. Sie können den Iranern nicht einseitig abverlangen, die atomare Entwicklung zu stoppen, wenn nicht gleichzeitig ein Sicherheitskonzept für die Region entsteht, wenn es keine Handelszonen in diesem Gebiet gibt, wenn das Verhältnis zum Westen nicht entspannt wird.


Sie werden keinen authentischen iranischen Staatsführer finden, der sagt, dass man die atomare Rüstung nicht brauche. Interessanterweise hat ja der Schah von Persien die Grundlagen für die heute Entwicklung gelegt. Die Reformisten haben aktiv an diesem Programm gearbeitet, jetzt führen es die Konservativen weiter. Die Reformisten wären sogar noch kompromissbereiter gewesen, während der radikale Flügel der konservativen Geistlichkeit sich heute ganz kategorisch in dieser Frage nichts verbieten lassen möchte. Sie befürchten, dass ein Nachgeben in dieser Frage eine Kette von Forderungen nach sich ziehen würde. Diese Kreise wollen, dass man dem Iran die Konzession in einem grossen politischen Deal abkauft. Zu diesem Deal ist der Westen aber bis heute nicht bereit.



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Sehen Sie hier durch die Wahl Barack Obamas eine Änderung?


Ich hoffe, dass sich hier eine grosse Änderung ergibt. Es ist eine grosse Chance. Ich bin etwas enttäuscht, über das, was Barack Obama in seiner Antrittsrede gesagt hat, weil er sich nur sehr verschwommen zu den Zielen geäussert hat. Er hat nicht die Hand ausgestreckt, die aus dem Orient ergriffen werden kann.



«Es gibt Bestrebungen im Iran, Ahmadinejad nicht wieder zu wählen. Er ist nicht extrem populär, er wird kämpfen müssen, um genügend Stimmen zu bekommen. Seine Gegner haben grosse Chancen.»


Er braucht für eine neue Politik auch Kräfte, die ihm nicht eh schon mit Sympathie entgegentreten, sondern Vertreter aus anderen politischen Lagern, die sagen: «ja, das ist ein Mann, der die Supermacht Amerika in die Lage versetzt, mit uns gemeinsam die Probleme vor Ort zu lösen». Die Erinnerung an den amerikanischen Traum, die Aktivierung amerikanischer Gefühle und der Appell, Amerika weiter zur Führungsmacht ausbauen zu wollen, trifft im Orient auf ganz grosse Skepsis. Das ist nicht die ausgestreckte Hand, sondern es sind nebulöse Formulierungen, bei denen man eher hofft, dass das dann gut geht. Damit vergibt die USA die Chance, Kräfte in der Region, die wirklich Konflikte lösen wollen, jetzt zu aktivieren. Der grosse Irrtum des Westens ist es, zu glauben, dass man nur mit Freunden zusammen arbeiten müsse, um die Konflikte der Region zu lösen. Es muss auch mit Gegnern gearbeitet werden.


Heisst das für Sie, dass Obama auch mit Ahmadinejad zusammen arbeiten müsste, im Wissen, dass dieser mit Ölgeldern aus Gründen des politischen Überlebens eine gigantische Misswirtschaft finanziert?


Ich glaube, es wäre klug, ein Angebot an den Iran zu richten, aber deutlich zu machen, dass zuerst die im Juli stattfindenden Wahlen abgewartet werden. Bis Obamas Administration die Arbeit aufgenommen hat und die grossen Wirtschafts- und Finanzprobleme in den USA angegangen werden, verstreicht auch noch etwas Zeit, so dass man die Wahlen im Iran getrost abwarten kann.



«Ich glaube, dass der Ölpreis relativ zügig wieder steigt»


Es gibt Bestrebungen im Iran, Ahmadinejad nicht wieder zu wählen. Er ist nicht extrem populär, er wird kämpfen müssen, um genügend Stimmen zu bekommen. Seine Gegner haben grosse Chancen. Der Wahlkampf wird sicherlich davon beeinflusst sein, ob eine Lösung der Probleme mit den USA möglich ist. Die Bevölkerung möchte eine Lösung, die politische Führung, aber man weis noch nicht, wie es zu bewerkstelligen ist. Sollte es Signale der Härte geben, hat Ahmadinejad grössere Chancen zur Wiederwahl. Persönlich glaube ich, dass ein Kandidat, der unbelastet ist von Drohungen gegenüber Israel, unbelastet von der krampfhaften Haltung gegenüber dem Westen, eine Lösung besser voranbringen könnte. Es müssen aber auch aus den USA eindeutige Signale kommen, nachdem sondiert wurde, was möglich ist. Ähnlich präsentiert sich die Situation in Israel. Auch hier stehen entscheidende Wahlen an, die abgewartete weerden müssen vor dem weiteren Vorgehen.


Nehmen wir an, eine Annäherung zwischen den USA und dem Iran findet statt. Welchen Einfluss wird das auf Russlands Entwicklung und seine Position in der Region haben?


Ich glaube, Russland hat immer gute Karten in der Region. Es gibt gemeinsame Grenzen, zum Beispiel mit dem Iran, es gibt gemeinsame Interessen im Gasbereich. Putin ist zum Beispiel der einzige ausländische Politiker, der unter vier Augen mit Khamenei gesprochen hat (Ahmadinejad war übrigens geschockt, dass er an dem Gespräch nicht teilnehmen durfte). Daran kann man erkennen, dass Russland eine Sonderrolle innehat. Zudem hat Russland im Energiebereich,  wie auch Saudi Arabien, der Iran oder der Irak, ein Interesse daran, die Preise zwar nicht ins Unendlich, aber deutlich in die Höhe zu treiben. Der Westen hat genau ein gegenteiliges Interesse, da die Amerikaner der grösste Energie-Importeur sind.


Das heisst, Sie erwarten einen deutlich höheren Energiepreis für die Zukunft, da wir zum Beispiel Länder wie China und Indien mit dem steigenden Bedarf bis jetzt noch nicht erwähnt haben?


Ich glaube, dass der Ölpreis relativ zügig wieder steigt, zudem sehe ich eine Nachfrage, die gar nicht so genau wahrgenommen wird. Die Krise hat zwar momentan dazu geführt, dass die Nachfrage etwas sinkt, gleichzeitig führt aber der tiefe Preis dazu, dass in Afrika und Asien viele Leute wieder Auto fahren, die sich das bei den hohen Benzinpreisen zuvor nicht mehr leisten konnten. Auch im bitterarmen Afghanistan wird jetzt bei den tiefen Preisen wieder Auto gefahren werden können. Das heisst es gibt einen steigenden Konsum aus den mittleren Schichten der armen Länder. Die Dynamik der Weltbevölkerungsentwicklung wird hier gesamthaft für eine steigende Nachfrage und deshalb für steigende Preise sorgen.


Neu ist auch, dass auf die Interessen der USA bei der Energieförderung und Verteilung keine Rücksicht mehr genommen wird. Die USA haben den Irak- Krieg in den Augen der Völker des mittleren Ostens verloren. Jetzt wird man Appelle der USA, dass man keine zu hohen Ölpreise fordern soll, nicht mehr akzeptieren. Man wird im Gegenteil Alles daran setzen, den Ölpreis auf 200 Dollar hochzutreiben. Der Wegfall von politischen Restriktionen wird zu weiteren Ausschlägen führen.





Der Gesprächspartner:
1948 geboren in Bremen
1958 – 1966 Altes Gymnasium in Bremen 
1968 – 1975 Studium der Kulturwissenschaften, der Politischen Wissenschaften und der Wirtschaftsgeschichte an den Universitäten Freiburg und Tübingen mit dem Magisterabschluss
1975 – 1976 Mitarbeiter des Landesamtes für Denkmalschutz des Landes Baden-Württemberg 
1976 – 1978 Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks
1979 – 1980 Chef vom Dienst im dpa-Landesbüro Südwest
1980 – 1981 Korrespondentenbüro im Iran, Arbeit für ARD Rundfunk und Fernsehen, Korrespondent für dpa und mehrere Tageszeitungen 
Seit 1982 Berichterstattung für ZDF und SF/DRS über den Nahen und Mittleren Osten (Kriege, Bürgerkriege, Entführungen, Intifada) 
1986 – 2000 Büro Amman/Jordanien
1991 u. 2003 Berichte über den Kuwait-Krieg und den Irak-Krieg aus Bagdad 
2002 – 2008 Leiter ZDF-Büro in Teheran 
2006 -2008 ZDF-Sonderkorrespondent für den Nahen und Mittleren Osten
Seit April 2008 Korrespondent für das Schweizer Fernsehen SF

Für seine Berichterstattung über den Irak-Krieg erhielt Ulrich Tilgner den Hanns-Joachim-Friedrich-Preis für Fernsehjournalismus 2003. Er hätte «unter den extremen Bedingungen der Kriegsberichterstattung seine professionelle Qualität und seine journalistische Unabhängigkeit bewahrt und bewiesen». So lautet die Begründung des Trägervereins in Hamburg. 

Bücher:
– Zwischen Krieg und Terror (2006),
– Der inszenierte Krieg (2003),
– Umbruch im Iran (1979)

Filme:
– Schah Matt (1981),
– Die Kurden ? ein Volk, das es nicht geben darf (1983),
sowie unterschiedliche Fernsehdokumentationen.









Das Gespräch fand am Internationalen Alpensymposium statt:
http://www.alpensymposium.ch/



 

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