Thomas Ernst, CEO Nagra
von Patrick Gunti
Herr Ernst, Anfang April hat der Bundesrat den Konzeptteil des Sachplanes Geologische Tiefenlager genehmigt und damit den Startschuss für die Suche nach Standorten für die Entsorgung radioaktiver Abfälle gegeben. Was bedeutet der Entscheid für die Nagra?
Der Sachplan ist ein weiterer Meilenstein im Entsorgungsprozess. Er gewährleistet, dass Standorte für geologische Tiefenlager in einem fairen, nachvollziehbaren und partizipativen Verfahren evaluiert und bezeichnet werden. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, damit die Suche nach sicheren Standorten in angemessener Zeit in der Schweiz zum Ziel führt. Die Nagra begrüsst die Genehmigung des Sachplans. Sie legt wert auf ein gesellschaftlich breit abgestütztes Verfahren. Im Herbst wird die Nagra in ihrer Rolle als Projektantin Vorschläge für mögliche Standortgebiete beim Bundesamt für Energie einreichen.
Was beinhaltet der vom Bundesrat verabschiedete Konzeptteil?
Der Konzeptteil beschreibt den gesamten Ablauf des Sachplanverfahrens bis zur Einreichung der Rahmenbewilligung für einen Standort. Er definiert alle Verfahrensschritte und beschreibt notwendige Kriterien zur Auswahl für die Standorte. Die Lagerstandorte werden dabei in drei klar bezeichneten Etappen schrittweise ausgewählt. Dazu liegt ein detaillierter Zeitplan vor.
Geplant sind zwei Lagertypen, für hochaktive Abfälle einerseits, für schwach- und mittelaktive Abfälle andererseits. Die hochaktiven Abfälle entstehen ausschliesslich in den Reaktoren für Kernkraftwerke – wo entstehen die schwach- und mittelaktiven Abfälle?
Die schwach- und mittelaktiven Abfälle entstehen aus mehreren Quellen: Der grösste Volumenanteil dieser Abfälle fällt beim künftigen Rückbau der bestehenden Kernkraftwerke an. Natürlich produziert auch der Betrieb der Kernkraftwerke schwach- und mittelaktiven Abfall – so etwa Kleidungsstücke, ausgediente Metallteile, Filterabfälle oder Reinigungsharze.
Daneben gibt es Forschungsabfälle – zum Beispiel aus dem Paul Scherrer Institut (PSI) in Villigen und aus dem CERN in Genf. Dann kommen solche aus der Analytik und aus der Medizinaltechnik dazu. Schliesslich entstanden sie auch in früheren industriellen Anwendungen – aus der Entsorgung alter Brandmelder oder aus der Uhrenindustrie.
«Der Sachplan ist ein weiterer Meilenstein im Entsorgungsprozess.» (Thomas Ernst, CEO Nagra)
Die geologischen Tiefenlager sollen «über eine ausreichend lange Zeit offen gehalten, überwacht und kontrolliert werden können und nach ihrem Verschluss müssen Mensch und Umwelt dauernd geschützt sein». Von welchem Zeitrahmen sprechen wir in diesem Zusammenhang?
Das Ziel der geologischen Tiefenlagerung ist, die radioaktiven Abfälle so lange zuverlässig vom menschlichen Lebensraum fernzuhalten, bis sie nicht mehr gefährlich sind. Dafür sorgen mehrere technischen Barrieren und das Lagergestein. Der erforderliche Zeitraum beträgt bei den hochaktiven Abfällen etwa 200’000 Jahre. Diese für den Menschen sehr lange erscheinende Einschlusszeit ist auf der geologischen Zeitskala kurz. So ist das von der Nagra bevorzugte Lagergestein, der Opalinuston, bereits 180 Mio. Jahre stabil oder ca. 1000 mal älter als die nötige Einschlusszeit. Die gesellschaftliche Forderung nach Überwachung und möglicherweise auch Rückholbarkeit der Abfälle wird in unserem Lagerkonzept berücksichtigt. Kommende Generationen können Lager so lange überwachen, wie sie es für notwenig halten. Danach können sie das Lager jederzeit definitiv schliessen. Die Stilllegungs- und Entsorgungsfondsverordnung des Bundes geht von einer Beobachtungsphase von 50 Jahren aus.
Wie die radioaktiven Abfälle entsorgt werden, ist klar, jetzt kommt die Frage, wo dies geschehen soll. Welche Rolle übernimmt die Nagra bei dieser Entscheidfindung?
Die Nagra ist die Projektantin und erarbeitet alle technisch-wissenschaftlichen Grundlagen. Ihre Hauptrolle ist, im Namen der Entsorgungspflichtigen gemäss den Vorgaben des Sachplans mögliche Standortgebiete vorzuschlagen und am Schluss die Rahmenbewilligungsgesuche einzureichen.
Lässt sich zusammenfassend sagen, nach welchen Kriterien die Standortwahl verlaufen wird?
Der Konzeptteil des Sachplans hält die notwendigen Kriterien zur Sicherheit und technischen Machbarkeit von Tiefenlagern fest. Diese umfassen die Eigenschaften des Wirtgesteins, die Langzeitstabilität, die Zuverlässigkeit der geologischen Aussagen sowie die bautechnische Eignung. Die Sicherheit hat immer oberste Priorität. Nur bei Standorten, die alle strengen Sicherheitsanforderungen vollumfänglich erfüllen, dürfen weitere Kriterien in Betracht gezogen werden.
Welches sind die weiteren Etappen bis zur definitiven Standortwahl und in welchem Zeitraum stehen diese an?
Die definitive Standortwahl wird mit der Rahmenbewilligung abgeschlossen. Der Bund rechnet etwa in 10 Jahren mit deren Erteilung. Bis dahin werden im Sachplanverfahren in drei Etappen mögliche Standorte aufgezeigt, bewertet, verglichen und danach die definitiven Lagerorte ermittelt.
$$PAGE$$
Viele Menschen fürchten sich vor einem Lager für radioaktive Abfälle in ihrer Nähe. Mit welchen Reaktionen rechnen Sie, wenn die Vorschläge zu möglichen Standorten auf dem Tisch liegen, resp. die Standortwahl erfolgt ist?
Es ist richtig, dass im Zusammenhang mit geologischen Tiefenlagern Ängste bei der Bevölkerung vorhanden sind. Der Sachplan berücksichtigt dies und legt grossen Wert auf die Mitarbeit der lokalen Bevölkerung. Sie wird umfassend über alle Aspekte eines Tiefenlagers informiert und bestehende Fragen werden ausführlich beantwortet. Zudem haben die Einwohner diverse Einflussmöglichkeiten, zum Beispiel auf die Erschliessung und die Anordnung der erforderlichen Infrastruktur an der Oberfläche sowie die Beurteilung der möglichen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Lagers.
Deshalb rechnen wir zwar mit unterschiedlichsten Reaktionen, gehen aber von einer überwiegend konstruktiven und aktiven Mitarbeit der Bevölkerung aus.
Die Genehmigung der Rahmenbewilligung für ein Tiefenlager untersteht dem fakultativen Referendum – welchen Teil der Überzeugungsarbeit wird die Nagra leisten?
Eine nationale Abstimmung ist zeitlich noch weit weg. Sie wird frühestens in etwa 10 Jahren stattfinden. Aber die Überzeugungsarbeit beginnt bereits heute, indem jeder Schritt im Standortauswahlverfahren transparent dargestellt wird. Es besteht ein internationaler Konsens, dass geologische Tiefenlager den langfristigen Schutz von Mensch und Umwelt am besten gewährleisten, da sie unabhängig der Entwicklung von Umwelt und Gesellschaft an der Erdoberfläche langfristig sicher bleiben.
Die heutige Generation hat von den Prozessen, die zu diesen Abfällen geführt haben, profitiert. Deshalb ist es auch ihre Aufgabe die sichere Entsorgung zu gewährleisten.
Die Nagra wird neben der technisch-wissenschaftlichen Grundlagenarbeit dazu beitragen, dass diese für die Meinungsbildung wichtigen Elemente breiter bekannt werden. Die übergeordnete Überzeugungsarbeit liegt beim Bundesamt für Energie, das im Sachplanverfahren die Federführung inne hat.
«..deshalb rechnen wir zwar mit unterschiedlichsten Reaktionen, gehen aber von einer überwiegend konstruktiven und aktiven Mitarbeit der Bevölkerung aus.» (Thomas Ernst, CEO Nagra)
Die Nagra ist nur zu einem Teil in der nationalen Entsorgung tätig. Wer sind Ihre anderen Kunden?
Die Nagra ist ein wichtiger internationaler Know-how-Träger, wenn es um Tiefenlagerforschung und Beratung bei konkreten Lagerprojekten in anderen Ländern geht. Mitarbeit bei Bohrprojekten und geologischen Erkundungsarbeiten liegen ebenfalls im Portefeuille der Nagra. Sie arbeitet aktuell mit mehr als 10 Nationen zusammen und forscht bzw. entwickelt mit diesen Ländern unter anderem in Felslabors im In- und Ausland. Davon profitieren beide Seiten. Die Nagra hat im Jahr 2007 für über 4 Millionen Franken Beratungs- und Dienstleistungsprojekte für Dritte abgewickelt.
Welche Erkenntnisse aus anderen Ländern sind im Gegenzug für die Arbeit der Nagra wichtig?
Sehr viele Erkenntnisse, seien es forschungsspezifische oder auch Erfahrungen aus dem Betrieb bereits bestehender Tiefenlager im Ausland. Als konkrete Beispiele nenne ich die Entwicklung von Lagerbehältern, von Modellen zum Stofftransport oder von im Lagergestein geeigneten bautechnischen Methoden. Es besteht ein sehr offener und enger Austausch mit vielen Schwesterorganisationen der Nagra im Ausland. Die Nagra verfolgt die weltweit neuesten technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen genau und an vorderster Front.
Wie wichtig ist der Forschungsbereich der Nagra und welche Bedeutung haben die Forschungen der letzten Jahrzehnte im Hinblick auf die Standortwahl?
Forschung und Entwicklung sind das Herzstück, aus dem unsere breiten Kenntnisse kommen. Sie wurden über viele Jahre erarbeitet. Die Nagra konnte ihre technisch-wissenschaftliche Kompetenz u.a. mit dem vom Bundesrat 2006 genehmigten Entsorgungsnachweis beweisen. Darin wurde nachgewiesen, dass sichere geologische Tiefenlager für alle Kategorien radioaktiver Abfälle in der Schweiz gebaut werden können.
Aufgrund des aktuellen Kenntnisstandes wissen wir heute sehr viel bezüglich Sicherheit, Bau und Betrieb der künftigen Tiefenlager. Wie radioaktive Abfälle sicher entsorgt werden können, ist mittlerweile klar. Nun führt uns der Sachplan zum Wo, d.h. zum konkreten Lagerstandort.
Herr Ernst, besten Dank für das Interview.
Zur Nagra:
Gemäss Schweizer Kernenergiegesetz sind die Verursacher radioaktiver Abfälle für eine sichere Entsorgung verantwortlich. 1972 haben der Bund und die Kernkraftwerk-Betreiber dafür die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) gegründet. Die Nagra ist das technische Kompetenzzentrum der Schweiz für die Entsorgung radioaktiver Abfälle in geologischen Tiefenlagern. Die Nagra hat ihren Sitz in Wettingen, Kanton Aargau. Sie beschäftigt rund 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Zur Person:
Thomas Ernst ist seit 1. Mai 2007 CEO der Nagra. Er wechselte von der Eberhard Recycling AG in Kloten. Ernst schloss sein Studium als Dipl. Chem. Ing. an der ETH Zürich mit der Promotion ab. Nach einem Forschungsaufenthalt in den USA stieg er als Projektleiter für Verfahrenstechnik bei einem Ingenieurbüro in der Entsorgungsbranche ein. 1993 trat er bei der Eberhard Recycling AG ein, dem Marktführer für Altlastsanierungen in der Schweiz. Nachdem er in den ersten Jahren als Entwicklungsleiter unter anderem für die Inbetriebnahme der grössten Bodenwaschanlage Europas zuständig war, übernahm er ab 1996 die Bereichsleitung Böden/Altlasten. Von 2004 bis zu seinem Wechsel zur Nagra war er als Geschäftsführer für die operative und administrative Führung der Eberhard Recycling AG verantwortlich. Thomas Ernst ist verheiratet und Vater von drei Kindern.