Niraj Dawar, Barford Professor of Marketing an der University of Western Ontario, Kanada: «Wahre Innovation orientiert sich am Kunden»

Von Steven Soranno, Credit Suisse Research Team

Steven Soranno: Können Sie die Bedeutung des Begriffs «Innovation» definieren? Wie hat er sich verändert?

Niraj Dawar: Innovation ist ein viel breiter gefasster Begriff, als wir gemeinhin annehmen, und meint mehr als das Herstellen besserer Produkte. Wir müssen den Fokus auf den gesamten  Kundennutzen legen, der sich zusammensetzt aus dem «Was» plus dem «Wie» eines Kaufs. Dazu in einfaches Beispiel: Ein Konsument kauft im Supermarkt ein Sechserpack Coca- Cola-Dosen, stellt es zu Hause in den Kühlschrank und nimmt später eine dieser Dosen mit auf einen Ausflug und trinkt sie, wenn er Durst hat. Diese Dose kostet ihn 30 bis 50 Cent; der Gegenwert scheint zu stimmen, sonst würde der Kauf nicht erfolgen. Es gibt aber auch den andern Fall, dass der Konsument durstig ist, auf einen Getränkeautomaten stösst und in diesem Moment bereit ist, das Vierfache für eine einzelne gekühlte Cola-Dose zu bezahlen. Dieser Aufpreis widerspiegelt den Wert, den ein Konsument dem Produkt beimisst, wenn es ihm wann, wie und wo er will, angeboten wird. Der Nutzen ist dann ein völlig anderer. Vor diesem Hintergrund müssen sich Unternehmen die Frage stellen, wie viel an Wert sie einbüssen, wenn sie ihre Produkte nicht so anbieten, wie die Konsumenten es wünschen. Wenn sie anfangen, systematisch zu untersuchen, wie sie imBereich des «Wie» Mehrwert für den Kunden schaffen können, dann ist es möglich, beim «Wie» innovativ zu werden und neue Wege und Mittel zu entwickeln, um den Konsumenten Produkte und Nutzwert zu bieten.



«Wir glauben, dass man tatsächlich den gesamten Wert  erfassen kann, den der Konsument kauft – und dieser Wert geht weit über das Produkt hinaus. Die Art und weise, wie der Kunde das ersteht, was wir verkaufen, bietet viele Geschäftschancen.» Niraj Dawar


Meinen Sie mit dem «Wie» so etwas wie Kundenfokus? Wird diesem nicht längst eine wichtige Rolle beigemessen?

Auf den Aspekt der Innovation bezogen ging es beim Kundenfokus häufig darum, die Kundenbedürfnisse zu verstehen und entsprechend optimierte Produkte zu entwickeln. Wir plädieren jedoch dafür, über den reinen Produktaspekt hinauszugehen. Wir müssen auf den Gesamtnutzen für den Kunden fokussieren. Diesen Gesamtwert gilt es danach systematisch in ein «Was» und ein «Wie» zu unterteilen. Wenn wir einmal den Gesamtwert, den der Kunde ersteht, in einzelne Faktoren aufgegliedert haben, können wir wiederum gezielt nach innovativen Wegen im Bereich des «Wie» suchen. Wir glauben, dass man tatsächlich den gesamten Wert  erfassen kann, den der Konsument kauft – und dieser Wert geht weit über das Produkt hinaus. Die Art und weise, wie der Kunde das ersteht, was wir verkaufen, bietet viele Geschäftschancen.


Welche ersten Schritte sollten Unternehmen einleiten, um das «Wie» wirklich zu verstehen?

Ein Unternehmen muss sich zwei Fragen stellen. Erstens: Wie hoch sind die Interaktionskosten,das heisst, welche Kosten muss der Kunde in Kauf nehmen, um einen bestimmten Wert zu erstehen, mit dem er dann den Nutzen eines Produkts oder einer Dienstleistung für sich einlöst? Selbstverständlich bezahlt der Kunde für das Produkt, daneben nimmt er zusätzlichen Aufwand auf sich. Um auf das Coca-Cola-Beispiel zurückzukommen: Der Kunde muss das Sechserpack nach Hause transportieren, es aufreissen, das Getränk kühlen – all dies ist Mehraufwand, der weit über den vom Kunden für das Produkt bezahlten Preis hinausgeht. Wir können jedoch diese Interaktionskosten systematisch reduzieren und auf diese Weise Kundennutzen schaffen. Zweitens müssen sich Unternehmen überlegen, welche Risiken die Kunden eingehen, wenn sie ihre Produkte gegenüber jenen der Konkurrenz bevorzugen. Danach können wir die Risiken ausloten, erfassen und eliminieren – und dadurch  wiederum Nutzen für den Kunden generieren.


Ist Innovation, die auf dem «Wie» basiert, ein grundsätzliches Erfordernis der heutigen Zeit?

Heute haben alle Firmen Zugang zu denselben Drittunternehmen in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Produktdesign und Produktentwicklung – Produktparität wird also zunehmend zur Norm. Immer kürzer werdende Produkt-Lebenszyklen, ein härterer Wettbewerb in fast allen Branchen sowie schnelle Nachahmung und Produktinnovation von Seiten der Konkurrenz sind Beispiele dafür. Vor diesem Hintergrund gelangen immer mehr Unternehmen zur Einsicht, dass der Wettbewerbsvorteil eher im «Wie» denn im «Was» liegt.


Wie entwickelt sich dabei die Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer?

Es ändert sich viel, aber nicht unbedingt wegen des «Was» und des «Wie». Zur Veränderung tragen vielmehr die Konsumenten selbst bei – und zwar indem sie sich wie nie zuvor in grösseren Gemeinschaften austauschen. Sie wissen, was in anderen Märkten vor sich geht. Es sind die Käufer, die den Grossteil der Informationen rund um ein Produkt sammeln. Diese Informationen können sie via Internet austauschen, sie bilden Communitys. Konnte sich der Hersteller früher von oben herab an Millionen von Konsumenten richten, so darf er sich heute nur mehr als Angehöriger einer Community sehen, in der er wohl eine Stimme hat, aber keine bedeutendere als die anderen Mitglieder. Als Community-Mitglied muss sich der Produkthersteller an die Regeln der Konsumenten halten, die inzwischen auch die Überwachung der Resultate übernommen haben, anstatt dies den Unternehmen zu überlassen. Die Beziehung verändert sich also in der Tat, jedoch aufgrund von grösseren Veränderungen im Marktumfeld.


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Warum können Unternehmen heute nur noch wenig nachhaltigen Nutzen aus Produktinnovationen ziehen?

Die Technologie verändert sich enorm schnell. Wer heute eine Technologie entwickelt, will so schnell wie möglich einen Markt dafür. Denn es ist klar: Sobald sich ein Produkt als erfolgreich erweist, lanciert die Konkurrenz ähnliche Produkte. Die Geschwindigkeit, mit der neue Produkte eingeführt werden und Marktanteile gewinnen, steigt. Die Folge ist, dass der Zeitraum der Exklusivität immer kürzer wird. Ein Wettbewerbsvorteil ist heutzutage entsprechend schwieriger zu verteidigen als noch vor 15 Jahren.



«Um Gewinn zu machen, muss ein Unternehmen über einen gewissen Grad an Exklusivität in seiner Branche verfügen – einen «Festungsgraben», wie es Warren Buffet nennt.»


Aber können nicht auch «Wie»-basierte Innovationen imitiert werden oder veralten?

Dies gilt es insofern im Auge zu behalten, als ein Unternehmen stets auch neue Bereiche finden muss, in denen es nachhaltige Wettbewerbsvorteile gewinnen kann. Firmen investieren viel in die Produktentwicklungen, in die Schaffung von Kundenwert, und natürlich wollen sie aus diesen Investitionen auch Erträge erwirtschaften – Erträge, welche die Aktionäre mehr beeindrucken als die Erträge anderer Firmen. Um Gewinn zu machen, muss ein Unternehmen über einen gewissen Grad an Exklusivität in seiner Branche verfügen – einen «Festungsgraben», wie es Warren Buffet nennt. Man braucht diesen Graben um das eigene Schloss herum, denn ohne ihn könnte die Konkurrenz die Festung allzu leicht einnehmen und dem Unternehmen dadurch grössere Gewinne verunmöglichen. Vom Standpunkt der Konkurrenzfähigkeit aus gesehen sind Wettbewerbsvorteile also absolut notwendig. Im Bereich der Produkte können diese Vorteile allerdings immer weniger erreicht oder gehalten werden.


Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die Innovationstrends?

Die Digitalisierung bietet enorme Chancen. Die Communitys tauschen sich bereits untereinander aus und sind in der Lage, den Unternehmen, die Produkte verkaufen und bewerben, die Kontrolle über die Markt-Spielregeln zu entreissen. Gleichzeitig eröffnet die Digitalisierung den Unternehmen die Möglichkeit, sich den individuellen Kundenbedürfnissen besser anzupassen und massgeschneiderte Informationen bereitzustellen. Wenn wir uns also beim Produktangebot auf das «Wie» konzentrieren, können wir einiges bewegen. Unternehmen, die Lebensmittel anbieten, könnten sich etwa auf den Verkauf von verpackten Lebensmitteln via Supermärkte beschränken. Sie gehen heute jedoch im Bereich der Kundenbeziehung weit über den reinen Produktabsatz hinaus. Beim «Wie» etwa gehen sie so weit, dass sie Datenbanken schaffen, wo sie Konsumenten dazu animieren, sich in Websites einzuloggen, anzurufen oder E-Mails zu senden. So etablieren sie eine interaktive Kommunikation mit Millionen von potenziellen Kunden. Interaktive Kommunikation ist deshalb so interessant, weil ein Unternehmen jedes Mal, wenn ein Kunde es kontaktiert, diesen Kunden erkennt, weiss, wer er ist, und sich an sämtliche vorangegangenen Interaktionen mit ihm erinnert. Es muss ihn also nie zweimal dasselbe fragen. Firmen können ihr Angebot massgeschneidert auf den Kunden ausrichten. Oftmals werden sie voraussehen, was der Kunde wünscht, bevor es dieser selber weiss.


Sind die Produktinnovationen in allen Branchen weniger nachhaltig als jene im Bereich der Interaktion zwischen Verkäufer und Käufer?

Auf dem «Wie» basierende Innovationen bedingen interne Systeme: die  Zusammenarbeit verschiedener Unternehmenssparten sowie eine bestimmte Organisationsstruktur. Deshalb braucht es auch einen Wandel der Unternehmenskultur; dabei muss das «Wie» sichtbar werden und das Unternehmen stets systematisch nach Innovationswegen im Bereich des «Wie» Ausschau halten. Dies ist ein langer Prozess, doch wenn das eine Unternehmen dafür viel Zeit benötigt, braucht die Konkurrenz mindestens ebenso lang. Ich denke, Innovationsmöglichkeiten im Bereich des «Wie» haben enormes Potenzial. Wir befinden uns hier erst ganz am Anfang.


Gilt dies sowohl für die Schwellen- als auch für die Industrieländer?

Diese Unterscheidung ist nicht relevant; meiner Meinung nach lassen sich das «Was» und das «Wie» über alle Märkte hinweg anwenden. Heute, im Zeitalter des globalen Marktes, ist Produktparität eine globale Realität.





Praxisbeispiel Orica: Explosive Wirkung
Die Unternehmen müssen verstehen, dass sie ihren Fokus nicht darauf richten sollten, was sie verkaufen, sondern darauf, was der Kunde kauft, meint Niraj Dawar. Dieser feine Perspektivenwechsel eröffnet enorme Einsichten in den Kundennutzen. «Orica, ein australischer Sprengstoffhersteller, ist ein Musterbeispiel. Er hat sein Angebot grundsätzlich verändert, indem er eine Ware neu bewertete. Anstatt Sprengstoff per Kilogramm zu verkaufen, bietet er nun ein Sprengresultat an – etwa, dass 80 Prozent des gesprengten Materials einem Toleranzwert entsprechen, den der Kunde in Bezug auf die Steingrössen definiert. Das hat die Spielregeln verändert; die Konkurrenz muss sich nun überlegen, wie ein bestimmtes Sprengergebnis erreicht werden kann.»
Weiter sagt Dawar: «Orica sammelte Kundeninformationen, wertete sie aus und erarbeitete Rahmenbedingungen für die gewünschten Resultate. Damit war das Unternehmen in der Lage, die gesamte Sprengung abzuwickeln und den Kunden Verträge im Bereich der Gesteinslogistik anzubieten, anstatt lediglich Sprengstoff zu verkaufen. Hier handelt es sich um eine Innovation, bei der das Management nicht nur die Preisgestaltung, sondern praktisch alles veränderte ausser dem Produkt – dieses blieb dasselbe.»






Der  Gesprächspartner

Niraj Dawar ist Barford Professor of Marketing an der Richard Ivey School of Business, University of Western Ontario, Kanada. Davor war er als Professor für Marketing am INSEAD, Frankreich, tätig. Seine aktuellen Studien beschäftigen sich mit den Auswirkungen von Unternehmens- und Managementaktivitäten im Bereich Markenwert und Marketingstrategie im internationalen Kontext.





Das Interview wurde uns freundlicherweise von Credit Suisse IN FOCUS zu Verfügung gestellt 

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