Sepp Blatter, FIFA-Präsident: «Verantwortung für den Weltfussball zu tragen, heisst auch, Verantwortung für die Menschen dieser Welt zu tragen»
von Patrick Gunti
Moneycab: Herr Blatter, jeder Präsident einer Organisation oder CEO einer Unternehmung braucht ein erfolgreiches Produkt. Erklären Sie uns bitte die Erfolgsformel «Ihres Produktes» ? dem Fussball.
Sepp Blatter: Fussball folgt den gleichem Muster wie die griechische Tragödie: Es gibt die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung. Aber entscheidend ist ein Unterschied: Im Gegensatz zum Theaterstück weiss man vorher nie, wie es schliesslich ausgeht. Beispiel Basel-Zürich. In den letzten 10 Sekunden wird alles auf den Kopf gestellt. Das gibt es nur im Fussball.
Sie sind seit über 30 Jahren bei der FIFA, zuerst als Technischer Direktor, dann 17 Jahre als Generalsekretär und nun seit acht Jahren als Präsident. Der Fussball als Sport hat sich in dieser Zeit stark verändert, welches sind die hervorstechenden Merkmale der Veränderung innerhalb des Weltfussball-Verbandes?
Der Fussball befindet sich an einer der Schnittstellen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Er bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen ethischen Idealen und realen Interessen, mit Gegebenheiten, die sich permanent verändern. Nichts ist beständiger als der Wandel. Werte und Ansichten verändern sich, neue Herausforderungen entstehen. Gerade die FIFA hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stärker gewandelt, als man ihr zugute hält. Sie hat Reformen in Angriff genommen und vollzogen. Wir sind heute Vorreiter im Sport, was Transparenz und gute Führung angeht, mit unserer Rechnungslegung nach IFRS, internen und externen Kontrollen. Bei der FIFA gibt es eine neue unabhängige Ethik-Kommission und nicht weniger als fünf Instanzen kontrollieren bei der FIFA, woher das Geld kommt und wohin es fliesst: die Finanzdivision, die Finanzkommission, die Rechnungsprüfer von KPMG, das Internal Audit Committee und am Schluss der Kongress.
«Ohne eine Partnerschaft zwischen Fussball, Wirtschaft und Fernsehen, die für alle Seiten vorteilhaft ist, geht nichts» Sepp Blatter, FIFA-Präsident
Sie haben immer die gesellschaftliche Verantwortung des Fussballs betont. Auf welchen Ebenen nehmen Sie persönlich und der Weltfussballverband insgesamt diese Verantwortung wahr?
Verantwortung für den Weltfussball zu tragen, heisst auch, Verantwortung für die Menschen dieser Welt zu tragen. Der Fussball ist ein Hoffnungsträger par excellence. Diesen Frühling habe ich die vom Tsunami verwüsteten Länder in Asien besucht. Die FIFA-Familie hat über USD 10 Millionen gespendet, und alle Mittel wurden bereits zweckgebunden projektiert und eingesetzt. Die Wiederherstellung von Fussballplätzen mag im Vergleich zur herkulischen Aufgabe, eine ganze Region wiederaufzubauen, als nebensächlich erscheinen. Doch für die Betroffenen, vor allem für die Kinder, ist dies ein Lichtblick und eine Hilfe, ihre Traumata zu überwinden.
Die FIFA wird ihre diesbezüglichen Aktivitäten noch weiter ausdehnen. Wir haben eine eigene Abteilung für soziale Verantwortung geschaffen, die zahlreiche Aktivitäten mit unseren Partner wie UNO, Unicef, ILO, SOS Kinderdörfer und anderen NGOs koordiniert.
Auf professioneller Ebene ist Fussball heute eine gewaltige Wirtschaftsmaschinerie, eine Fussball-WM ist ein Milliardengeschäft. Jede Weltmeisterschaft ist kommerzieller als diejenige zuvor. Wird diese Entwicklung irgendwann an ihre Grenzen stossen?
Ohne eine Partnerschaft zwischen Fussball, Wirtschaft und Fernsehen, die für alle Seiten vorteilhaft ist, geht nichts. Das gilt ja auch für die Kultur. Viele Opernhäuser, Theater und Museen müssten schliessen, wenn es keine Sponsoren mehr gäbe. Da messen die Kritiker mit zwei Ellen. Den Grundsatz, nicht auf das Maximum, sondern auf das Optimum zu setzen, haben wir schon vorher befolgt. Aber wir werden über die Bücher gehen. Beim Pflichtenheft für Ausrichter wird es Veränderungen geben.
Über 750 Mio. CHF erhält die FIFA von den Sponsoren. Diese dürfen damit exklusiv für die WM werben. Kritiker werfen Ihnen vor, die FIFA verwandle Deutschland mit den strengen Auflagen im «Pflichtenheft für die WM 2006» zum «Sponsoren- und FIFA-Land». «Knebelverträge» und ähnliches ist zu vernehmen. Was entgegnen Sie dieser Kritik?
Erstens gibt es keine Knebelverträge und zweitens wiederholen die Medien wider besseres Wissen immer wieder die gleichen falschen Vorwürfe, die wir seit Monaten auch mit Belegen dementieren. Aber dann passt die Story nicht mehr. Es gibt keine Kleiderordnung für Fans, der Bäcker um die Ecke darf WM-Brötchen anbieten usw.. Umgekehrt wird geflissentlich weggelassen, dass die Sponsoren insgesamt fast eine Milliarde an Unterstützungsmitteln bringen, welche sonst der Steuerzahler berappen müsste.
Sie haben zuletzt die reichen Klubs dieser Welt stark kritisiert und ihnen «Wildwest-Kapitalismus» und eine «moderne Form der Sklaverei» vorgeworfen. Natürlich ist das Vorgehen verschiedener Akteure verwerflich, aber erst durch die kommerziellen Möglichkeiten des Business sind diese Machenschaften möglich geworden. Sehen Sie die FIFA nicht als Teil dieses Systems?
Nein. Die FIFA huldigt nicht dem Kapitalismus, sondern sie generiert Einnahmen, die sie im Sinne der Solidarität weltweit verteilt. Über 70% unserer Ausgaben fliessen direkt in den Fussball zurück, in Form von Unterstützungsgeldern, Projektfinanzierungen und Bezuschussung von Wettbewerben. Einnahmen bringt nur die WM, bei praktisch allen anderen Turnieren im Nachwuchsbereich, bei den Frauen usw. zahlt die FIFA drauf. Jeder Verband erhält pro Jahr USD 250’000, jeder Kontinentalverband USD 2,5 Millionen. CHF 100 Millionen werden für das Goal-Programm aufgewendet. Ende 2006 wird jeder der 207 FIFA-Verbände sein eigenes Haus des Fussballs oder technisches Zentrum haben.
$$PAGE$$
Die Kritik im Zusammenhang mit dem Sponsoring, der Ticket-Verkauf, die umstrittene Stadion-Studie der Stiftung Warentest, die Absage der grossen Eröffnungsfeier in Berlin – Sie dürften sicherlich froh sein, wenn am 9. Juni endlich Fussball gespielt wird?
Ich bin immer glücklich, wenn Fussball gespielt wird, denn letztendlich geht es ja ums Spiel. Aber als Dachverband des Fussballs tragen wir eine immense Verantwortung für das Gedeihen unseres Sports. Also müssen wir handeln, von uns aus aktiv werden. Legten wir die Hände in den Schoss, würde das auch kritisiert. Die FIFA steht immer wieder in der Kritik – manchmal zu Recht, oft aber auch zu Unrecht. Wir werden häufig unter unserem Wert geschlagen.
Was erwarten Sie sich von dieser Weltmeisterschaft rein fussballerisch?
Sehr viel. Mit dem Entscheid, die Spieler vier Wochen vor WM-Beginn zunächst in die Ferien und dann in die Vorbereitung zu schicken, wird einem Burnout vorgebeugt. Ich bin sicher, dass die Stars viel frischer als vor vier Jahren sein und wir eine hervorragende WM mit tollem Fussball erleben werden.
«Um es mit Wilhelm Busch zu halten: Favorit zu werden ist nicht schwer, Favorit zu sein dagegen sehr.» Sepp Blatter
Auch die Schweiz ist in Deutschland mit von der Partie. Wie weit kann es das Team von Köbi Kuhn Ihrer Meinung nach bringen?
Die Gruppe der Schweizer ist heikler, als viele annehmen. Im Fussball gibt es heute keine «Kleinen» mehr. Ich will jede Mannschaft an der WM sehen, aber in den Gruppenspielen werde ich die Schweiz verpassen, sprich ich erwarte sie in der zweiten Runde ?
Brasilien, Argentinien, Italien, Deutschland ? die «üblichen Verdächtigen» zieren die Spitze jeder Favoritenliste. Auch die Ihrer?
Um es mit Wilhelm Busch zu halten: Favorit zu werden ist nicht schwer, Favorit zu sein dagegen sehr. Natürlich denkt man immer zuerst an die erwähnten Teams, doch es gibt die eine oder andere Mannschaft, die es weit bringen kann, aber die nur wenige auf ihrer Rechnung haben. Ich bin sicher, dass wir wieder Überraschungen erleben werden.
Sie haben im März dieses Jahres Ihren 70. Geburtstag gefeiert, denken aber nicht daran, kürzer zu treten. Sie haben angekündigt, bis 2011 im Amt bleiben zu wollen, wenn Sie gesund blieben und die Verbände Sie wollten. Haben Sie nie Sehnsucht nach einem etwas ruhigeren und weniger öffentlichen Leben?
Mein Beruf ist für mich Berufung und der Fussball für mich Teil meines Lebens. Irgendwann werde ich sicher kürzer treten, aber zuvor möchte ich noch einige Ziele erreichen. Die WM in Südafrika ist Teil eines Gesamtentwicklungsprojekts «Win in Africa with Africa». Der Fussball wird als Schrittmacher für einen ganzen Kontinent dienen.
Sie sind sehr viel unterwegs und haben in Ihrer langen Tätigkeit bei der FIFA die Mächtigen, Einflussreichen und Berühmten dieser Welt getroffen. Welche Personen haben Sie dabei am meisten beeindruckt und warum?
Nelson Mandela gehört sicher dazu. Er ist eine einzigartige Persönlichkeit, mit einer Ausstrahlung, die jedermann beeindruckt. Ich schätze mich glücklich, ihn seit vielen Jahren zu kennen.
Herr Blatter, wir bedanken uns für das Interview.
Zur Person:
Joseph S. (Sepp) Blatter wurde am 10. März 1936 in Visp geboren. Er absolvierte die Collèges de Sion und St. Maurice, wo er die Matura (Abitur) machte und schloss seine weitere Ausbildung an der Rechtsfakultät der Universität Lausanne mit dem Lizentiat der Handels- und Volkswirtschaftswissenschaften ab. Joseph Blatter ist Vater einer Tochter.
Zu Beginn seiner Laufbahn war Joseph Blatter als PR-Chef des Walliser Verkehrsverbandes tätig und wurde danach Generalsekretär des Schweizer Eishockeyverbandes (1964). Später setzte er seine Karriere als Journalist und PR-Fachmann im sportlichen und im privatwirtschaftlichen Sektor fort. Als Direktor für PR und Sport der Longines S.A. war er im Bereich der Zeitmessung an der Organisation der Olympischen Spiele 1972 und 1976 beteiligt und kam so mit der internationalen Sportszene in Kontakt. Im Sommer 1975 begann Blatter als Direktor der FIFA-Entwicklungsprogramme Präsident João Havelanges Projekte auf diesem Gebiet umzusetzen. Zu jenem Zeitpunkt entstanden die Ideen für die Wettbewerbs- und Ausbildungsprogramme und wurden die Grundsteine gelegt für die Weltmeisterschaften in den Alterskategorien U-20 und U-17 sowie im Frauen- und Hallenfussball (Futsal), die heute ein integraler Bestandteil der weltweiten FIFA-Aktivitäten sind.
1981 berief ihn das Exekutivkomitee des Fussball-Weltverbandes zum neuen Generalsekretär und stattete ihn 1990 mit den Befugnissen eines Exekutivdirektors (CEO) aus. Unter seiner Ägide wurden nicht weniger als fünf Weltmeisterschaften durchgeführt (Spanien 1982, Mexiko 1986, Italien 1990, USA 1994 und Frankreich 1998). Gleichzeitig war er zusammmen mit seinem Vorgänger im Präsidentenamt, João Havelange, federführend an den Verhandlungen für die Fernseh- und Marketingverträge zur kommerziellen Verwertung der Fussball-Weltmeisterschaften bis ins Jahr 2006 beteiligt. Am 8. Juni 1998 wurde Blatter zum Nachfolger von Havelange zum achten Präsidenten der FIFA gewählt. Mit diesem Wahlsieg am 51. Ordentlichen Kongress des Weltverbandes in Paris (Frankreich) erklomm der Schweizer die höchste Stufe im internationalen Fussball.
Zur FIFA:
Im Weltfussball-Verband FIFA sind 207 Mitglieder-Verbände zusammengeschlossen. Allein zwischen 1975 und 2002 wurde 60 Landesverbände als Mitglieder aufgenommen. Die Kontinentalverbände sind die Dachverbände der nationalen Fussballverbände auf allen Kontinenten. AFC in Asien, CAF in Afrika, CONCACAF in Nord- und Mittelamerika sowie der Karibik, CONMEBOL in Südamerika, UEFA in Europa und OFC in Ozeanien. Die FIFA hat das Geschäftsjahr 2005 finanziell erfolgreich abgeschlossen. Im dritten Jahr des WM-Zyklus 2003-2006 erzielte der Weltfussballverband einen Überschuss von CHF 214 Millionen. Per 31. Dezember 2005 verfügte er über CHF 461 Millionen an eigenen Mitteln.