Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Im Dienste der Finanzmärkte
„Es war einmal vor langer langer Zeit, da sprach man Jahr für Jahr von einer sogenannten Zinswende“. Vielleicht klingt es ja in zehn Jahren mal so oder ähnlich. Wenigstens in den USA schien die Notenbank ja tatsächlich die Wende an der Zinsfront eingeleitet zu haben. Nach der ersten zaghaften Anhebung Ende 2016, folgten 2017 immerhin vier Zinsrunden von jeweils 25 Basispunkten und 2018 setzte die amerikanische Notenbank diesen Weg konsequent mit vier weiteren Zinserhöhungen fort.
Die letzte Anpassung der Leitzinsen im Dezember 2018 vom Niveau 2.0% bis 2.25% auf ein Niveau zwischen 2.25% und 2.5% liegt nun aber schon mehr als ein Quartal zurück und – neun Zinserhöhungen hin oder her – noch immer muss man auch in den USA von historisch tiefen Zinsen sprechen. Ich kann immer weniger nachvollziehen, dass so viele Finanzmarktbeobachter noch immer von einer Zinswende in den USA fabulieren. Betrachtet man nur die Entwicklung am kurzen Ende, dann kann man allenfalls zu diesem Schluss kommen, obwohl das Wording „zaghafte Normalisierung“ wohl treffender wäre. Am langen Ende der Zinskurve sieht es indes schon anders aus. Das ist von einer Zinswende nach der Kehrtwende der Notenbanker gar nichts mehr zu spüren.
Die historischen Grössenordnungen an der Zinsfront in den USA seien nochmals kurz in Erinnerung gerufen. An der Schwelle zur Finanzkrise im Sommer 2007, als Hochkonjunktur herrschte, lag der Leitzins bei 5.25%, also mehr als doppelt so hoch wie Ende 2018, als ebenso Hochkonjunktur herrschte. Ende 2000 vor dem Dotcom Crash war der Leitzins in der Hochkonjunktur sogar bei 6.5% gelegen. Da sind die heutigen rund 2.4% natürlich ein Klacks dagegen und wer nur drei Jahre zurückdenkt, der kann tatsächlich zum Schluss gelangen, dass die Zinswende in diesem Zeitraum vollzogen wurde.
Wie erwähnt anders sieht das Bild aber am langen Ende aus. Gestern rentierten 10 jährige amerikanische Schatzanleihen mit 2.4%. Wer nun einen Chart lädt, der bis zum Datum der ersten Zinserhöhung durch das Fed im Dezember 2016 zurückreicht, muss zum Schluss kommen, dass eine Zinswende so nicht aussieht. Heute liegen wir am langen Ende wieder etwa auf dem Niveau vom Dezember 2016. Ich weiss, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen süffisant gute, einleuchtende und vor allem plausible Erklärungen dafür haben, aber trotzdem sprechen immer noch nicht wenige von Zinswende. Das ist aber genau der falsche Begriff. Die Kehrtwende der Notenbanker in den USA setzte der Zinswende ein Ende.
Unterkühlung? Heizung aufdrehen!
Ein wirtschaftlicher Abschwung beginnt gern einmal im Kopf und die seit Sommer 2018 publik gewordenen Konjunkturindikatoren sendeten Signale, die negativ auf das Gemüt der Finanzmarktteilnehmer schlugen. Dermassen sogar, dass das vierte Quartal 2018 als eines der lausigsten Quartale der Börsengeschichte überhaupt in die Annalen einging. Zwar haben die meisten Aktienmärkte 2019 wieder kräftig Boden gut gemacht, der Schweizer Markt sogar mehr als das, aber diese übertriebene Berg- und Talfahrt der Börsen hat die Währungshüter fast mehr verunsichert als die Verschlechterung der Konjunkturindikatoren. Man kann sich des Eindrucks immer weniger erwehren, dass die Geldpolitik die Finanzmärkte hätschelt und deren Launen in den Griff zu bekommen versucht, dabei aber Gefahr läuft, die Haftung zur Basis, der realen Wirtschaft zu verlieren. Die europäische Wirtschaft lief seit Mitte 2017 rund genug, um ein oder zwei Zinsaufwärtsrunden schadlos zu überstehen.
Doch die Finanzmärkte hätten das 2017 vielleicht mit noch stärkeren Korrekturen quittiert und so der Geldpolitik vor Augen geführt, dass sie die falsche Richtung eingeschlagen hat. Die USA hätten die Zinsen wohl auch schon früher als 2016 anheben können, taten dies aber nicht, um die Finanzmärkte nicht zu vergraulen. An den Finanzmärkten herrscht seit geraumer Zeit eine stets angenehme Temperatur. Egal ob es draussen in der realen Wirtschaft stürmt oder fröstelt, lösen die Geldhüter erst mal eine „auch nur“ drohende Unterkühlung drinnen in den Finanzmärkten. Sofort wird die Heizung wieder oder noch mehr aufgedreht.
Irgendwie scheint die Geldpolitik in dem Dilemma gefangen, in das sie sich selbst hineinmanövriert hat. Das Motto Ende 2008 lautete: bloss die Finanzmärkte retten, man sprach von stabilisieren, damit die restliche Welt nicht untergeht. Die Geldpolitik machte die Finanzmärkte sukzessive zu verzogenen Lümmeln, denen man nicht nur jede Laune verzeiht, sondern tunlichst darauf achtet, dass die Stimmung sich nicht verschlechtert. Die Geldhüter stehen eigentlich nur noch im Dienste der Finanzmärkte. Sie befinden sich damit mehr und mehr auf Abwegen. Aber immerhin applaudieren ihnen dafür die Märkte.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen