Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Für jede Schandtat zu haben

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Für jede Schandtat zu haben
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Wir hatten am Wochenende eine Art Veteranentreffen, da ein langjähriger Kumpel 60 Jahre alt wurde. Und wie an solchen Anlässen üblich, spielte die Vergangenheit die Hauptrolle. Gemeinsame Erinnerungen wurden ausgetauscht und die eine oder andere „Heldengeschichte“ von damals machte genau so die Runde wie einige Peinlichkeiten, die uns einst widerfuhren. Quintessenz des feuchtfröhlichen Abends war, dass die gute alte Zeit, wie wir sie einst erlebten, wohl der Vergangenheit angehört. Willkommen bei den Alten oder besser: den Älteren, die gern von den guten alten Zeiten schwärmen, wie peinlich ist das denn, dachte ich mir?

Es ist auf jeden Fall Unsinn. Wir wissen schliesslich, dass alle guten alten Zeiten immer erst einmal schlechte neue Zeiten waren. Die Verklärung der Vergangenheit durch die Älteren ist kein neuzeitliches Phänomen, sondern schon fast ein Gesetz der Menschheit. Allerdings hat sich das Tempo des Wandels mit dem technologischen Fortschritt – man kann auch sagen mit dem Internet – beschleunigt. Dermassen, dass manche von uns damit nicht mehr zurechtkommen. Meine Eltern spielten von der Kindheit bis ins hohe Alter „Mensch ärgere dich nicht“; nicht nur, vor allem aber eben ein Leben lang. In meiner Kindheit spielte ich „Mensch ärgere Dich nicht“, in der Jugend jasste ich und später spielte ich ganz gern die eine oder andere Partie Schach. Und natürlich zockten wir mal an einem Flipperkasten oder spielten ein gähnend animiertes Fernsehspiel mit einer Konsole die fast so gross war wie das Fernsehgerät selbst. Heute sind wir indes digitalisiert. Mein Jüngster spielt Fortnite von Epic Games. Fortnite ist so eine Art „Mensch ärgere Dich“ der Moderne. Denn Fortnite ist heute das Computerspiel mit den weltweit meisten Spielern, wohl über 200 Millionen.

Internet schafft Jugendschutz ab
Mein Junior ist 11 Jahre alt, „Fortnite Battle Royale“ unterliegt im Internet keiner Altersfreigabe. Im stationären Handel ist eine Altersfreigabe dagegen zwingend notwendig, in der Nintendo Switch-Fassung liegt die bei 16 Jahren. Das ist schon mal völlig paradox. Ich sollte ihm also eigentlich verbieten zu spielen, habe mir aber das Heft selbst aus der Hand nehmen lassen. Es fing ganz harmlos an. Kennen lernte unser Spross Fortnite, als er einem Gspänli über die Schulter zusah, wie dieser es auf seinem iPad spielte. Und da schon damals alle spielten, spielt unser Jüngster heute auch, zumal Fortnite im Internet eben keinem Jugendschutz unterliegt.

Das haben wir leider übersehen. Und darum geht es bei uns zu Hause heute nicht mehr um die Frage Fortnite ja oder nein, sondern darum, wie viel Fortnite wir wöchentlich zulassen wollen. Das Suchtpotenzial ist zweifellos riesig. Ohne elterliche Kontrolle würde mancher Spross wahrscheinlich vor dem Bildschirm irgendwann dehydrieren. Internet sei Dank sind die guten alten Zeiten des Jugendschutzes passé. Er wurde im Netz faktisch abgeschafft. Das Internet schafft aber noch einiges mehr ab, und vielleicht auch ein wenig der guten alten Zeit.

Internet enthemmt…
Kennen Sie die Zeitschriften „Wochenend“, „Piep“ oder „Praline“? Das sind sogenannte Männermagazine oder Erotikzeitschriften längst vergangener Tage. Praline wurde im Jahr 1954 gegründet, erreichte 1975 eine Auflage von 1,25 Millionen Verkaufsexemplaren und wurde vor 12 Jahren eingestellt, nachdem es nur noch knapp 66‘000 Käufer wöchentlich fand. Auch die anderen beiden Magazine wurden längst eingestellt. Für die damalige sexuelle Verklemmung waren Titel wie „5x Sex am Tag normal!!!“ schon eine ziemliche Zumutung. Die Hefte wurden nur an Volljährige abgegeben, waren stets hinter den harmlose(re)n Zeitschriften verborgen und so verdeckt, dass nicht einmal ein halber nackter Busen zu sehen war, wenn man an der Kasse darauf schielte. Und wehe man nahm so ein Ding mal verstohlen aus dem Regal und versuchte einen Blick darauf oder rein zu werfen. Dann gab es strafende Blicke von allen Seiten, von Kunden und Bediensteten und einen knallroten Kopf. Heute werden Freizügigkeiten am Kiosk nicht mehr gross nach hinten geräumt, nachdem uns das Internet diesen schutzlos aussetzt.

Googeln sie „5x Sex am Tag“, dann kriegen Sie über 1 Million deutschsprachige Ergebnisse, ganz zu schweigen von den „weiterführenden“ Vorschlägen, die einem Google noch als nahliegende Suchen unterbreitet. Die gute alte Welt mag ja sexuell verklemmt gewesen sein, aber muss ein solcher Zustand gleich der totalen Enthemmung weichen? Dosiert gibt es nun mal kein Internet, werden die Technologieschaffenden entgegnen. Und die Vorteile überwögen. Der Nachteil ist aber, man erhält es ohne Packungsbeilage, dafür aber mit allen nur erdenklichen Nebenwirkungen.

…extrem sogar!
Viele Jugendliche spielen nicht nur Fortnite, sondern schauen auch gleich noch ihren Idolen beim Zocken zu. Mein Jüngster belehrte mich, dass Fortnite Sport sei und die besten Spieler demnach eine Art Leistungssportler. Er kennt die namhaften Streamer, die ihre Spiele live ins Internet stellen und dazu noch eine Menge fauler Kommentare dazu. Derart, dass sich die Sprache der Jugendlichen dem lockeren Umgangston der Game-Community anpasst. „Ey Alder, is‘ ja hamma“ ist da eine oft wiederholte, aber eher harmlose Variante. Der Umgangston der Jungen untereinander war jedenfalls auch schon Thema an der Schule. Wenn der Lehrer zum „Bro“ wird, dann ist der Jugendliche offenbar nicht mehr in der Lage, genügend Distanz zwischen virtuell digitales und normales Leben zu legen. Eine Lösung hat die Schule aber nicht. Wir Eltern müssen das in den Griff kriegen, aha.

Im Netz ist Enthemmung keine Mutprobe mehr, sondern völlig normaler Alltag. Enthemmung erzielt mehr Hits und Likes als banale menschliche Normalität. In einer zunehmend enthemmten Masse noch aufzufallen, braucht viel Fantasie oder eben Skrupellosigkeit. Über letztere verfügte eindeutig der Killer von Christchurch, der seine Bluttat mit einer Helmkamera live via Facebook verbreitete. Und der wusste wohl auch, dass die Kontrollen von Facebook nicht genügen würden, um eine rasche Verbreitung des Videos im Netz verhindern zu können. Genauso wenig, wie andere Plattformen zuvor die Verbreitung seiner kranken Philosophien im Netz verhindern konnten/wollten. Noch schlimmer, er animierte dazu noch Anhänger, die Weiterverbreitung seines Wahnsinnes zu unterstützen, weshalb diese das Video auch noch weiterverbreiten konnten, als Facebook es bereits vom Netz genommen hatte.

Auch die Gelbwesten in Frankreich haben es heute viel einfacher als die AKW-Gegner in den 1970er-Jahren, als die Organisation einer Demonstration ein riesiges Unterfangen war. Die heutigen Demonstranten müssen sich nicht mehr in einem versteckten Hinterhof treffen, um gewaltsame Aktionen zu planen. Das können sie vom Wohnzimmer aus erledigen, anonym und erst noch mit hoher Breitenwirkung. Genauso die radikalen Fussballfans oder die Rechts- wie Linksextremenszene, Mobilmachung via soziale Netzwerke. Die sogenannt sozialen Medien sind in der Tat für jeden zu haben und ebenso für jede Schandtat. Es wird Zeit, sie dafür endlich zur Kasse zu bitten. Anders werden die das sonst nie kapieren. (Raiffeisen/mc/ps)

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