Chancen für Brexit-Deal gesunken – Nordirische DUP gegen Vorschläge
London / Brüssel / Berlin – Nur wenige Stunden vor dem EU-Gipfel in Brüssel sind die Chancen für ein schnelles Brexit-Abkommen wieder gesunken. Die nordirisch-protestantische Partei DUP lehnt Teile der von London und Brüssel aushandelten Vorschläge zum EU-Austritt ab. Dies ist ein grosser Rückschlag für Premierminister Boris Johnson, der im Parlament auf die Unterstützung der DUP angewiesen ist. Kanzlerin Angela Merkel räumte im Bundestag ein, man sei noch nicht am Ziel.
«So wie die Dinge stehen, können wir nicht unterstützen, was zum Zoll und zu Zustimmungsfragen vorgeschlagen worden ist», teilten DUP-Chefin Arlene Foster und Fraktionschef Nigel Dodds am Donnerstag mit. Auch bei der Frage der Mehrwertsteuer gebe es nach wie vor Unklarheiten. Man werde aber mit der Regierung zusammenarbeiten, um einen «sinnvollen Vertrag» auszuarbeiten, heisst es in der Erklärung.
Die 27 bleibenden EU-Staaten hätten immer noch keinen Text für eine Vereinbarung gesehen, bestätigte ein hoher EU-Beamter in Brüssel. «Wir haben uns irgendwie daran gewöhnt: Beim Brexit muss man das Unerwartete erwarten.» Johnson soll sich beim EU-Gipfel, der am Nachmittag beginnt, noch einmal an die 27 Partner wenden. Diese sollen danach ohne Johnson über einen möglichen neuen Austrittsvertrag sprechen. «Vielleicht haben wir dann einen Deal oder vielleicht auch nicht», sagte der EU-Beamte.
Die Bedingungen der EU seien unverändert, vor allem der Schutz des Binnenmarkts und der Friedensordnung für Nordirland. Wenn diese Vorgaben nicht respektiert würden, werde es keine Einigung geben.
Merkel : «Sind noch nicht am Ziel»
Nach den Worten von Merkel sind die Verhandlungen noch ein stückweit von einer Lösung entfernt. «Wir sind noch nicht am Ziel», sagte die Kanzlerin in einer Regierungserklärung in Berlin. In den Gesprächen habe es in den vergangenen Tagen aber deutliche Fortschritte gegeben. Sie könne jedoch noch nicht sagen, wie der EU-Gipfel in Brüssel enden werde. Möglicherweise gebe es noch einen Sondergipfel vor dem geplanten Austritt am 31. Oktober.
Kurz vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs hatten Experten der EU und Grossbritanniens bis Mittwochabend wichtige Brexit-Fragen geklärt. Darunter war auch die lange sehr umstrittene Zollregelung für Irland, wie der EU-Unterhändler Michel Barnier nach Angaben von Diplomaten in einem EU-Treffen berichtete. Eine Gesamteinigung stand aber noch aus, weil einige komplexe Details offen waren.
Johnson ohne Mehrheit im Parlament
Johnson will sein Land zu Halloween aus der Staatengemeinschaft führen. Er hatte mehrfach in den vergangenen Tagen lange mit Foster gesprochen, aber auch mit Brexit-Hardlinern und Rebellen seiner Konservativen Partei. Der Premierminister ist auf jede Stimme angewiesen, denn er hat keine Mehrheit im Parlament.
Das Unterhaus ist im Brexit-Kurs total zerstritten. Zwar hatte eine Mehrheit gegen ein ungeregeltes Ausscheiden ohne Vertrag gestimmt. Das zwischen Johnsons Vorgängerin Theresa May und der Europäischen Union ausgehandelte Brexit-Abkommen fiel jedoch drei Mal durch.
Wiederholt hatte Johnson Brüssel mit einem ungeregelten Brexit gedroht. Für den Fall hatten Experten chaotische Verhältnisse für die Wirtschaft und viele andere Lebensbereiche vorhergesagt.
Zankapfel Backstop
Seit Tagen verhandelten London und Brüssel über Änderungen an dem Austrittsvertrag, den May 2018 mit Brüssel vereinbart hatte. Johnson verlangte Änderungen, weil er eine zu enge Bindung an die Staatengemeinschaft befürchtete. Streitpunkt war vor allem die enthaltene Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland, der sogenannte Backstop. Johnson wollte ihn komplett streichen.
Derzeit gibt es keine Kontrollen zwischen beiden Teilen der irischen Insel. Das wollen Dublin und Brüssel nach dem Brexit nicht ändern: Sie fürchten sonst ein Wiederaufflammen des Nordirland-Konflikts. Damals kamen Tausende Menschen ums Leben. Doch wollte die EU auch nicht, dass über die «Hintertür» der neuen EU-Aussengrenze in Irland unkontrolliert und unverzollt Waren auf den Binnenmarkt strömen.
Sollten sich beide Seiten doch noch kurzfristig auf ein Abkommen einigen, könnte es zum Showdown bei einer Sondersitzung des britischen Parlaments an diesem Samstag kommen. Die Abgeordneten müssten dann über den Deal abstimmen. Es wäre die erste Sitzung des Unterhauses an einem Samstag seit 37 Jahren. (awp/mc/ps)