SBB-Chef Meyer: Die aktuelle Situation ist ein Albtraum
Bern – Mitten in der Corona-Krise hat SBB-Chef Andreas Meyer seinen letzten Arbeitstag. Die aktuelle Situation mit gesundheitlichen Bedrohungen, Unsicherheit und weitgehendem Lockdown auch im öffentlichen Verkehr sei ein «Albtraum», sagte Meyer im Interview mit dem «Blick».
Die SBB hätten Nachfragerückgänge von 80 bis 90 Prozent. «Selbst in Hauptverkehrszeiten trifft man in manchen Wagen nur eine oder zwei Personen an.»
Als Reaktion auf die Corona-Krise wurde das Angebot im öffentlichen Verkehr stark heruntergefahren. Ob es eine weitere Reduktion geben wird, ist laut Meyer noch unklar. «Wir werden die Situation genau beobachten und haben vorbehaltene Entscheide getroffen. Sollte ein weiterer Schritt nötig sein, müssten wir die Fernverkehrslinien weiter ausdünnen», sagte er.
Das Angebot sei derzeit um rund 25 Prozent reduziert. «Unter eine Schwelle von rund 50 Prozent können wir im Personen- und Güterverkehr nicht gehen. Weil viele Verbindungen nicht mehr funktionieren würden und die Landesversorgung damit nicht mehr sichergestellt werden könnte.»
Gemischte Bilanz
Einige Zeit in Anspruch nehmen werde die Wiederaufnahme von Streckenabschnitten, die wegen der Corona-Krise vorübergehend eingestellt wurden, gab Meyer im Interview mit der Westschweizer Tageszeitung «Le Temps» zu bedenken. Er hoffe aber, den Zeitplan einhalten zu können für die Eröffnung des Ceneri-Basistunnels und die Einführung der Bombardier-Doppelstockzüge noch dieses Jahr.
Zugute hält er sich die Steigerung des Reiseverkehrs, den Ausbau des Immobiliensektors und die Sanierung der SBB-Cargo-Pensionskasse. Verbesserungswürdig sei allerdings die Pünktlichkeit der Züge, gab Meyer zu. Die Probleme in diesem Bereich seien klar lokalisiert und deren Lösung auf gutem Weg.
Auswirkungen auf Mobilitätsverhalten
Meyer ist überzeugt, dass die aktuelle Situation Auswirkungen auf das Arbeits-, Lern- und Mobilitätsverhalten haben wird. «Sobald wir uns wieder frei bewegen können, wird es insbesondere im Freizeitbereich einen Nachholbedarf geben», sagte er gegenüber dem «Blick».
Und er hoffe, dass viele Menschen jetzt merkten, wie viele gute Möglichkeiten es gebe, die stark belasteten Züge zu Stosszeiten zu meiden. «Man kann zum Beispiel eine oder zwei Stunden später zur Arbeit fahren. Oder eine Hochschule sagt, dass sie gewisse Angebote von nun an digital anbiete.»
Ein grosses Fragezeichen sei die wirtschaftliche Entwicklung, sagte Meyer. «Es wird nach der Solidarität für das Überleben auch noch einen Pakt zwischen Unternehmen, Mitarbeitenden und dem Staat brauchen, um Arbeitsplätze zu retten und Lieferketten sicherzustellen. Eine Herkulesaufgabe.»
Der Dienstag ist Andreas Meyers letzter Arbeitstag. Am Mittwoch übernimmt sein Nachfolger, der Freiburger Vincent Ducrot, den Chefsessel bei den SBB. (awp/mc/ps)