Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Im Blindflug unterwegs
Der Ausgangpunkt meiner heutigen Überlegungen ist leider etwas klischeebelegt, aber sei’s drum. Der Porsche 911 irgendwas beschleunigt in 3,5 Sekunden auf 100 Stundenkilometer. Es gibt gewisse Messungenauigkeiten, aber der sportlich ambitionierte Fahrer kommt an diese Werte ran. Nicht wenige Männer wissen so etwas, wenn nicht gar mehr über Beschleunigungswerte verschiedener Fahrzeugtypen. Frauen, die Behauptung sei gestattet, weil wohl kaum zu widerlegen, dürften sich weniger mit Fahrzeug- oder Leistungsdaten beschäftigen. Wir haben es hier folglich mit klar definierbaren Präferenzen zu tun, die sich noch einigermassen quantifizieren lassen und wo zwischen Männlein und Weiblein unterschieden werden kann, und auch wird.
Im Marketing hat man längst Zielgruppen entlang soziodemographischer Ausprägungen definiert und bearbeitet gezielt Männer, Frauen, Jüngere, Ältere, Familien oder Singlehaushalte. Mit was man als Berater in Marketingfragen jeweils beindrucken kann, ist, wenn man die dahinter stehenden nackten Zahlen präsentiert. Das leuchtet unmittelbar ein. Wir wissen exakt, wie viele Frauen oder Männer welchen Alters in der Schweiz leben und auch in was für Wohnungen und vieles mehr. Dafür gibt es quantitative Daten und die sind nun mal unwiderlegbar.
Besagter Marketingberater definiert nun Zielgruppen, angenommen Senioren, die er mit „65 Plus“ festlegt, das Produkt ist schliesslich eindeutig auf ältere Semester ausgelegt. Lassen Sie Ihre Fantasie walten, was das sein könnte, denn ich will kein weiteres Klischee bemühen. Der Marktresearcher kann diese Zielgruppe exakt quantifizieren, doch sobald er Umsatzprojektionen, begleitende Kampagnen und operative Empfehlungen abgibt, beruhen die jeweils schon auf Annahmen. Denn auch wenn ich weiss, wie viele Senioren es gibt, weiss ich noch lange nicht, was sie bevorzugt zu Nacht essen.
Jetzt kommen zu den harten Daten Hypothesen ins Spiel, basierend auf Umfragen oder der Analyse vergangener Verhaltensmuster, um daraus ein vermeintlich verlässliches Gerüst eines zukünftigen Marktpotenzials abzuleiten. Wir alle wissen, wie unsicher solche Berechnungen sind. Erstens müssen die Daten absolut verlässlich sein und zweitens – das weitaus schwierigere Unterfangen – müssen die Annahmen stimmen. Sobald von plausiblen Daten die Rede ist und nicht etwa nur von rein harten, sind Grunddaten bereits ein erstes Mal verändert worden.
Mit jeder Reduktion auf kleinere Grundgesamtheiten und dem damit einhergehenden Datenschwund werden folglich Projektionen immer ungenauer. Es braucht so viele Beobachtungen wie möglich. Doch was wenn, wie im Falle von Corona, keine Beobachtungen vorliegen?
Dünne Entscheidungsgrundlagen
Man stützt sich auf das, was man hat und fängt selbst an, Beobachtungen zu sammeln, im Falle von Corona hiess das vor allem Fälle zählen. Dass die Johns Hopkins University, eine notabene private Universität in Baltimore, Maryland, hier eine Pionierrolle eingenommen hat und fleissig weltweit Fallzahlen zusammengetragen hat, ist sicherlich ein dankenswertes Unterfangen, aber letztlich helfen Fallzahlen allein noch nicht viel weiter. Vergleichbar – etwa über Länder hinweg – sind sie nur, wenn sie auch überall auf die exakt selbe Art erhoben werden.
Das ist im Falle von Corona schlichtweg nicht der Fall, auch heute noch nicht und niemand weiss beispielsweise auch nur annähernd, wie hoch die Dunkelziffer in den verschiedenen Ländern ist. Dennoch dominierten die Fallzahlen bekanntlich nicht nur das mediale, sondern auch zusehends das politische Geschehen. Weltweit orientierten sich Politiker an diesen Zahlen, sie bildeten schliesslich die einzige, einigermassen quantifizierbare Grundlage für folgenschwere Entscheidungen wie Ausgangverbote und ein je nach Land partieller oder fast totaler Lockdown der Wirtschaft. Auch das nun einsetzende Wiederhochfahren der Wirtschaft und die Aufhebungen von Ausgangbeschränkungen werden mit den berühmten Fallzahlen begründet. Und diese Zahlen könnten bald auch mal dazu dienen, wieder restriktiver zu werden, wenn sich die „Kurve“ nicht wie gewünscht abflacht.
Zwei Lager
Ob sie sich tatsächlich soweit abflacht, dass wir bald wieder ganz normal leben dürfen, wie in der Zeit vor Corona, bleibt abzuwarten. Ganz normal weiter leben können werden wir hingegen trotzdem nicht. Dafür war das Ereignis zu einschneidend, für jedermann spürbar. Es hat uns zur Distanz verpflichtet und uns so sukzessive auseinandergetrieben in zwei verschiedene Lager. Im einen Lager herrscht eine Mentalität, des „mir passiert schon nichts oder wenn schon“ im anderen herrscht noch eher Furcht. Weder Fatalismus noch Risikoscheu sind aber gute Treiber für einen gelungenen Neustart. Beide Reaktionen sind zwar menschlich, ihre Versöhnung aber ein Ding der Unmöglichkeit.
Welche Reaktion die bessere ist, kann auch niemand sagen. Und doch haben sich die Menschen für den einen oder anderen Weg entschieden. Sie tun dies ohne Grundlage, ohne Daten und ohne Wissen, was ihr Tun auslöst. Emotion pur statt Ratio. Woher auch, wer weiss schon, was in der Zukunft geschieht, ausser ein paar unverbesserliche Prognostiker, deren Zunft ich schon jahrelang angehöre. Wir Ökonomen hatten über all die Jahre jede Menge Daten, dazu unglaublich schlaue Modelle, gespickt mit in langen Diskussionen plausibilisierten Annahmen und doch waren die Prognosefehler stets erschreckend. Trotzdem ist das Prognosegeschäft in der Ökonomie eine der Paradedisziplinen, denn es besteht ein grosses Interesse an Vorhersagen der Zukunft.
Hier schafft die Nachfrage sozusagen das Angebot. Wenn sich nicht mal vage abzeichnet, was in Zukunft geschehen könnte, greifen wir Ökonomen auf Szenarien zurück, die sich dann alle ganz plausibel anhören, wir können die verschiedenen Eintrittswahrscheinlichkeiten aber nicht quantifizieren.
Also bedienen wir uns des Begriffs der „starken Meinung“. Wenn ein sogenannter Staranalyst eine Aktie zum Kauf empfiehlt, hat er eine „starke (positive) Meinung“ zu dem Unternehmen. Seit Corona sind wir im Grunde alle Prognostiker. Alle mit einer starken Meinung, mein Ältester beispielsweise ist sehr stark der Meinung, dass man langsam wieder Party machen könne. Meine Tante hingegen ist überzeugt, sich draussen anzustecken und traut sich daher fast gar nicht mehr aus dem Haus. Zwei völlig unterschiedliche Zukunftsszenarien, je nach Lager, in welches uns Corona getrieben hat.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen