Mattea Meyer, Nationalrätin SP Zürich, im Interview
Von Helmuth Fuchs
Moneycab: Frau Meyer, das Parlament hat in der Krise sehr schnell dem Bundesrat die Verantwortung überlassen und den Betrieb eingestellt, während zum Beispiel das EU-Parlament seine Kern-Aufgaben weiterhin wahr nimmt. Weshalb musste das Schweizer Modell der direkten Demokratie so schnell dem Notrecht Platz machen, das eigentlich für fundamentale Krisen wie Kriege gedacht ist und weniger für Pandemien, welche zwar eine Herausforderung für das Gesundheitssystem darstellen, aber keine Existenzbedrohung für die gesamte Bevölkerung?
Mattea Meyer: Ich bedaure es sehr, dass sich das Parlament zu Beginn der Corona-Krise wochenlang selber aus der Verantwortung genommen hat und in einen „Winterschlaf“ verfallen ist. Gemeinsam mit der SP war ich der Meinung, dass es hätte möglich sein müssen, Kommissionssitzungen sowie auch ausserordentliche Sessionssitzungen abhalten zu können. Als oberstes, gesetzgebendes Gremium muss das Parlament doch gerade auch in Krisensituationen funktionieren! Hier müssen wir über die Bücher.
«Das Parlament hat sich zu lange aus der Verantwortung genommen und wurde auch erst viel zu spät wieder in die Entscheidungsfindung einbezogen.» Mattea Meyer, Nationalrätin SP Zürich
Welche Lehren können aus dem Umgang mit der Krise aus politischer Sicht gezogen werden, was muss bei einer nächsten Krise besser gemacht werden, was hat gut funktioniert?
Es ist nachvollziehbar, dass der Bundesrat als regierendes Gremium in einer solchen Krisensituation die Macht und die Mittel hat, rasch zu handeln. Diese Verantwortung hat er auch wahrgenommen. Er hat früh wichtige Massnahmen getroffen, um die Epidemie einzudämmen und die schwerwiegenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Bevölkerung abzufedern.
«Viele Menschen, insbesondere Armutsbetroffene und prekär Beschäftigte, fallen immer noch zwischen alle Maschen.»
Doch das Parlament hat sich zu lange aus der Verantwortung genommen und wurde auch erst viel zu spät wieder in die Entscheidungsfindung einbezogen. Die zuständigen Kommissionen tagten erst ab Mitte April wieder. Da waren die entscheidenden Weichen, gerade bei den wirtschaftlichen Massnahmen, bereits gestellt. Wir konnten nur noch im Nachhinein dort korrigieren, wo der Bundesrat keine Lösungen präsentiert hat: zum Beispiel bei den Gewerbemieten oder bei den Kinderkrippen. Doch viele Menschen, insbesondere Armutsbetroffene und prekär Beschäftigte, fallen immer noch zwischen alle Maschen.
Ihre vom Nationalrat gut geheissene und vom Ständerat verworfene Motion eines Verbotes von Dividendenzahlungen bei gleichzeitiger Kurzarbeit hat Unterstützung quer durch alle Parteien gefunden. Inzwischen hat der Bundesrat entschieden, zu den schon gesprochenen 14 Milliarden Franken (wovon 6 Milliarden a fonds perdu), zusätzliche 14 Milliarden in die ALV einzuschiessen. Was bedeutet diese neue Ausgangssituation für Ihr Anliegen, werden Sie das auf anderem Weg nochmals einbringen?
Es ist sehr frustrierend, dass der Ständerat die Motion versenkt hat. Jetzt geht die Unanständigkeit weiter, dass es Firmeneigentümer*innen gibt, welche die Löhne ihrer Angestellten von der Allgemeinheit zahlen lassen und gleichzeitig Gewinne ausschütten. Diese Frechheit geschieht inmitten der grössten Krise, die wir erlebt haben.
«Öffentliche Hilfe annehmen und gleichzeitig Gewinne ausschütten hilft nicht, diese Krise gemeinsam meistern zu können.»
Für mich ist klar: Aus dieser Krise kommen wir nur, wenn alle ihren Beitrag leisten. Öffentliche Hilfe annehmen und gleichzeitig Gewinne ausschütten hilft nicht, diese Krise gemeinsam meistern zu können. Ich werde genau hinschauen, welche Firmen in diesem und kommenden Jahr Dividende ausschütten und Angestellte auf Kurzarbeit setzen!
Während die bundesrätlichen Massnahmen das Gesundheitswesen überaus erfolgreich geschützt haben (Intensivpflegeplätze und Beatmungsplätze wurden maximal zu knapp 60 Prozent ausgelastet), zeichnet sich ab, dass die wirtschaftlichen Folgen uns über Jahre signifikant belasten werden. Alleine der Bund investiert Mittel in der Grössenordnung von über 70 Milliarden Franken. Wie soll das finanziert werden?
Ein Grossteil der staatlichen Gelder sind Bürgschaftskredite (rund 50 Milliarden), die hoffentlich mehrheitlich zurückbezahlt werden. Werden sie nicht zurückbezahlt, bedeutet das nämlich, dass die Firma konkurs gegangen ist. Ein anderer, wesentlicher Betrag in der Höhe von 20 Milliarden Franken fliesst als „à-fonds-perdu-Beitrag“ in die Arbeitslosenkasse. Damit wird die Kurzarbeitsentschädigung finanziert, von der fast 2 Millionen Erwerbstätige betroffen sind. Diese wichtige Massnahme hat zum Ziel, Arbeitsplätze über die Krise hinweg zu erhalten.
Die Corona-Krise ist eine „Krise der Kleinen“ – es sind die Selbstständigen, die Kleinunternehmerinnen, die prekär Beschäftigten, die am meisten betroffen sind. Jetzt ist es Zeit, dass „die Grossen“ ihren Beitrag an der Krisenlast tragen. Mit einer stärkeren Besteuerung von Firmengewinnen und Milliardenvermögen. Denn es sind Grosskonzerne und Vermögende, die in den letzten Jahren von Steuerprivilegien stark profitiert haben.
Sie setzen sich besonders für all jene ein, welche in der Krise vergessen werden oder zwischen alle Maschen fallen. Welche Menschen sind hier am meisten betroffen, wie soll Ihnen geholfen werden?
Der Bundesrat hat zu Beginn gesagt: „Niemand wird alleine gelassen.“ Die Umsetzung von diesem Versprechen hat noch Luft nach oben. Viele prekär Beschäftigte, zum Beispiel Reinigungskräfte in Privathaushalten, haben von heute auf morgen ihren Job und ihr Einkommen verloren. Zehn Prozent der Erwerbstätigen verdienen weniger als 4300 Franken pro Monat (bei 100%). Bei Kurzarbeit (20% weniger Lohn) macht das noch 3440 Franken. Viele Selbstständige kriegen 400 Franken Erwerbsausfallentschädigung – pro Monat. Davon kann niemand leben.
«Wir fordern, dass bei Erwerbstätigen mit tiefen Einkommen der Lohn trotz Kurzarbeit nicht gekürzt wird. Das hilft, um ihre Existenznot zu lindern.»
Armutsbetroffene mussten bereits vor der Krise jeden Franken zweimal umdrehen. Jetzt reicht es schlicht nicht mehr. Wir fordern, dass bei Erwerbstätigen mit tiefen Einkommen der Lohn trotz Kurzarbeit nicht gekürzt wird. Das hilft, um ihre Existenznot zu lindern. Und es stärkt ihre Kaufkraft, was gerade in Krisenzeiten für die gesamte Wirtschaft wichtig ist.
Und dann kommt noch hinzu, dass armutsbetroffene Ausländer*innen Angst haben, Sozialhilfe zu beziehen. Sie könnten nämlich ihr Aufenthaltsrecht verlieren. Hier muss klar geregelt werden, dass ein Sozialhilfebezug wegen Corona nicht dazu führt, dass jemand aus der Schweiz weggewiesen wird.
Für Menschen ohne gültige Papier (“Sans-Papiers”, geschätzt ca. 100’000 Personen in der Schweiz)) wird die Lage auch nach der Coronakrise angespannt bleiben, da eine steigende Arbeitslosigkeit, die höhere Staatsverschuldung, sinkenden Steuereinnahmen etc. ihre Chance auf Arbeit nochmals einschränken werden. Da sich die Sans-Papiers grösstenteils illegal in der Schweiz aufhalten, was wollen Sie unternehmen, um die Situation menschlich und rechtlich zu lösen?
Sans-Papiers putzen in Privathäusern, betreuen Kinder, pflegen betagte Personen zuhause, arbeiten auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Sie leisten wertvolle, schlecht bezahlte Arbeit und leben trotzdem in ständiger Angst, ausgeschafft zu werden.
Viele von ihnen haben ihre Jobs verloren, weil sie zum Beispiel zurzeit nicht mehr in Privathaushalten putzen können. Sie können keine staatliche Unterstützung beantragen, weil sie kein Aufenthaltsrecht haben. Nur dank der Hilfe von freiwilligen Organisationen und Spenden können sie zurzeit überleben. Das ist unwürdig. Es braucht erleichterten Zugang zu einem stabilen legalen Status für Sans-Papiers und längerfristig eine Regularisierung, wie sie andere Länder bereits kennen.
In der Sondersession hat Lukas Reimann (SVP) am 4. Mai einen Ordnungsantrag gestellt, dass die Parlamentarier auf die Hälfte des Taggeldes verzichten sollten, um eine Zeichen der Solidarität zu setzen. Die SP und auch Sie haben den Antrag abgelehnt. Was waren Ihre Gründe, abgesehen von der möglichen juristischen Implikation, für die Ablehnung des Antrages, der doch eigentlich Ihren politischen Werten entspräche?
Der Antrag ist scheinheilig. Die SVP torpediert alle solidarischen Massnahmen, damit wir diese Krise meistern können – zum Beispiel einen Teilmieterlass für das Kleingewerbe oder finanzielle Unterstützung von Armutsbetroffenen. Gleichzeitig versuchen sie, die parlamentarische Arbeit mit solchen Vorstössen abzuwerten.
«Solidarität im Alltag und starke, solidarische öffentliche Leistungen sind das Grundgerüst für unser Zusammenleben in dieser schwierigen Zeit.»
Ich finde es richtig, dass wir für geleistete Arbeit entschädigt werden. Genau so setze ich mich auch dafür ein, dass Erwerbstätige anständig und besser entlöhnt werden.
Zum Schluss des Interviews haben Sie zwei Wünsche frei. Wie sehen die aus?
Wir müssen verhindern, dass die Krise die globale Ungleichheit noch mehr verschärft – auf Kosten der Menschen und der Umwelt.
Solidarität im Alltag und starke, solidarische öffentliche Leistungen sind das Grundgerüst für unser Zusammenleben in dieser schwierigen Zeit. Die Krise zeigt, auf was es ankommt: Auf eine Gesundheitsversorgung, die für alle zugänglich ist. Auf ein Sozialsystem, welches niemanden sich selber überlässt. Und darauf, dass wir zueinander schauen. Es sind diese Werte, auf die wir unsere Zukunft aufbauen sollten. Nicht nur hier in der Schweiz, sondern weltweit.