Wie die «Friedensdividende» die klassische Landesverteidigung schwächte und ob sich das gelohnt hat

Wie die «Friedensdividende» die klassische Landesverteidigung schwächte und ob sich das gelohnt hat
Dr. Fritz Kälin

Der Militärhistoriker und Experte für Sicherheitspolitik, Dr. Fritz Kälin, schreibt für Moneycab über sicherheitspolitische Entwicklungen, die für die Schweiz von Bedeutung sind. Heute über die «Friedensdividende».

Von Dr. Fritz Kälin

Nach dem Kalten Krieg war eine «Friedensdividende» fällig. In der letzten Kolumne erwähnte ich am Rande, dass viele westliche Staaten ihre Militärausgaben aber nicht bloss senkten, sondern für eine kostspielige Transformation von Verteidigungs- zu Expeditionsstreitkräften verwendeten.

Alternativ hätten die bestehenden Streitkräfte einfach quantitativ verkleinert und die Kosten in etwa linear gesenkt werden können. Aber die völlig veränderte weltpolitische Lage verleitete viele Länder dazu, ihre Streitkräfte grundlegend neu auszurichten. Die bestechende Logik lautete, ausserhalb des befriedeten Europa Krisen und Kriege ‘vor Ort’ einzudämmen. Anstelle von Panzerverbänden aus Wehrpflichtigen waren neu professionelle, rasch verlegbare Expeditionskräfte gefragt.

Für die USA und Grossbritannien war der Anpassungsbedarf geringer, weil sie schon länger über professionelle Truppen mit globaler Einsatzreichweite verfügten. Für Länder wie z.B. Deutschland und Schweden, deren Armeen jahrzehntelang einzig auf den Kampf auf eigenem Territorium optimiert waren, war die Transformation in global einsetzbare Expeditionstruppen ungemein aufwändiger. Die «Friedensdividende» musste ja netto messbar bleiben. Innerhalb eines schrumpfenden Verteidigungsetats liess sich diese Umrüstung auf Expeditionstruppen nur durch einen massiven, nicht bloss linearen Abbau der klassischen Landesverteidigung finanzieren. Die Interventionen auf dem Balkan und in Afghanistan liessen keine Zweifel am Transformationsbedarf zu.

2008 demonstrierte aber Russland in Georgien, dass es seine Interessen militärisch durchzusetzen bereit war. Und diese Kriegserfahrung löste eine konsequente Modernisierung der russischen Streitkräfte aus. 2008 führte in den westlichen Streitkräften infolge der globalen Finanzkrise zu weiteren Sparmassnahmen. Wieder musste die klassische Landes- und Bündnisverteidigung Opfer bringen, damit die «Soldaten im gefährlichen Auslandeinsatz» keine lebensbedrohlichen Ausrüstungsmängel leiden mussten. Dafür wuchsen die Ausrüstungsmängel bei den Truppen an, die nach 2014 die NATO-Ostflanke wieder gegen die inzwischen modernisierte russische Armee absichern sollten.

Kritische Bilanz der (Militär-)Missionen, die «Fluchtursachen bekämpfen» sollten
Der Ressourcenkonflikt zwischen Friedensdividende und Umrüstungskosten liess sich selbst durch grösste Reduktion bei den klassischen Verteidigungskapazitäten nicht auflösen. Berufssoldaten verursachen hohe Lohnkosten. Und vermutlich gibt es für westliche Armee keinen kostspieligeren Einsatzraum auf der Welt als Afghanistan. Fehlender Eisenbahn- und Meeranschluss und eine kriegsversehrte Infrastruktur maximierten den logistischen Aufwand für die Truppe im Einsatz. Allein die Ausgaben der Amerikaner für den Krieg in Afghanistan summieren sich nach bald 20 Jahren auf inzwischen 800 Milliarden Dollar. Mehr als die USA pro Jahr für ihr gesamtes Militär ausgeben. Und wie sieht die Erfolgsbilanz heute aus? Die Fluchtmigrationen Richtung Europa bewegen sich zu grossen Teilen just aus oder über jene Länder, welche der Westen mit milliardenteuren Militäreinsätzen ‘stabilisieren’ wollte: Afghanistan, Syrien, Libyen und Ex-Jugoslawien.

«So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten» (Matthäus 19, 30)
Mir geht es nicht um billige Kritik im Nachhinein. Aber bislang wird nirgends eingestanden, dass die vielen Auslandeinsätze die militärische Macht des Westens ausgezehrt haben. Denn als 2014 der Ukrainekonflikt ausbrach, waren plötzlich wieder jene klassischen Verteidigungskapazitäten gefragt, die vielerorts über 20 Jahre lang als ‘Altlast des Kalten Krieges’ vernachlässigt worden waren. Russland und China hatten in diesen vielen Jahren ihre Rüstungsetats konsequent dafür verwendet, ihren militärtechnologischen Rückstand gegenüber dem Westen zu minimieren bzw. dessen Schwächen und die eigenen militärgeographischen Vorteile maximal auszunutzen. Mit welchen Investitionen der Westen darauf reagieren muss bzw. müsste, wurde in der letzten Kolumne skizziert. Dieser historische Rückblick soll verstehen helfen, weshalb der enorme zusätzliche Finanzierungsbedarf nicht allein der «Friedensdividende» nach dem Kalten Krieg angelastet werden kann. Das wird auch an jenen westlichen Ländern ersichtlich, die ihre Streitkräfte nach 1989 nicht konsequent «transformierten». Anders als Deutschland und Schweden müssen Finnland und Griechenland ihre wehrpflichtigen Verteidigungsarmeen nicht wiederaufbauen, sondern lediglich modernisieren.

Überhörte und neue Warnsignale
Im Nachhinein betrachtet fand die Umrüstung auf Expeditionsstreitkräfte für weit entfernte Einsätze schneller und konsequenter statt, als die dafür notwendige Befriedung des europäischen Kontinents. Russland als Verlierer des Kalten Krieges, aber nach wie vor grösste militärische Nuklear- und Landmacht des Kontinents, empfand sich bei der neuen europäischen Friedensordnung aussen vorgelassen. Ich stimmte schon 2008 den warnenden Stimmen zu, die im damaligen Georgienkrieg eine Warnung Moskaus an den Westen sahen, der Ukraine keine Hoffnungen auf einen NATO-Beitritt zu machen. Wir im Westen müssen uns heute fragen, ob die auch als Überwindung des Kalten Krieges gerechtfertigte «Umrüstung» vieler westlicher Streitkräfte die richtige Friedensdividende war. Zumal die USA sich nach zwei teuren Kriegen im Irak und Afghanistan neu auf China fokussieren müssen, und deshalb Europas Friedensdividende nicht mehr so grosszügig absichern können und wollen.  


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