Lockerungen der Massnahmen zur COVID19-Bekämpfung: Das Wissen um die Freiheit ist wichtiger als deren Ausübung
Der Bundesrat zeigte sich mit seinem letzten Entscheid überraschend optimistisch und risikofreudig. Lockerungen der Massnahmen inmitten stabiler bis leicht steigender Zahlen positiv Getesteter und Hospitalisationen. Von den einen als unverantwortlich bis kriminell gescholten, von den anderen als zu mutlos und zu wenig weit gehend kritisiert, ist dieser Schritt vor allem eines: Ein Vertrauensvorschuss an die Bevölkerung und eine Beruhigungsmassnahme für die lauter werdenden KritikerInnen.
Kommentar von Helmuth Fuchs
Die Mehrheit der Bevölkerung wird sich irgendwo zwischen den beiden Polen bewegen.
Weder die in den Sozialen Medien lautstarken Verfechter von ZeroCovid mit Forderungen für einen harten Lockdown, noch die Verbände und Standesorganisationen, welche sich für eine sofortige oder schnelle Aufhebung sämtlicher Massnahmen stark machen repräsentieren die Mehrheit der Bevölkerung. In diesem Sinne bewegt sich der Bundesrat wahrscheinlich mitten in der Gesellschaft, wenn er jetzt einige Massnahmen zurücknimmt und dafür aber eine strikte Einhaltung von Abstand, Hygiene und Maskenpflicht fordert, damit die kleinen Freiheiten nicht zum grossen Rückschritt führen.
Das theoretische Dürfen ist wichtiger als das reale Tun
Wahrscheinlich steckt in der Lockerung auch ein Stück Kalkulation, dass viele Menschen von den neuen Möglichkeiten aus Vorsicht oder Angst vor einer möglichen Ansteckung gar keinen Gebrauch machen werden. Vor allem Jugendliche, welche sich vermehrt wieder treffen, Sport betreiben oder ins Kino gehen möchten, werden dies so vielleicht sogar sicherer in einem kontrollierten und strukturierten Rahmen tun, als wenn sie sich zuhause oder in anderen ungeeigneten Innenräumen treffen. Oft ist es so, dass der Verlust einer Sache schmerzt, nicht weil man sie in der Realität häufig verwendet, sondern weil sie symbolisch für eine Möglichkeit steht. Der Wegfall des Demonstrationsrechts ist für die Meisten in der Realität nicht relevant, da sie nie an eine Demo gehen würden. Da demonstrieren aber ein Grundrecht ist, die Möglichkeit zum Aufstand, zur Erhebung der eigenen Stimme, ist der Wegfall dieses Rechts von hoher Bedeutung.
Eigenverantwortung 3.0 und höheres Tempo bei TTIQ
In diesem Sinne eröffnet die Entscheidung des Bundesrates für jeden Einzelnen wieder etwas mehr Möglichkeiten – auch die Möglichkeit, von den Öffnungen keinen Gebrauch zu machen. Niemand muss jetzt sich schwitzend und prustend in einem schlecht gelüfteten Fitnessstudio abquälen, es gibt keinen Zwang, die auf Netflix und anderen Streaming-Plattformen vorhandenen Filme sich im Kino statt zuhause anzuschauen. Niemand ist gezwungen, Stunden vor dem Bildschirm mit Twitter-Rants zu verbringen, statt das eigene Immunsystem mit Bewegung draussen zu stärken.
Die kritischen Reaktionen aus dem Ausland kamen erwartungsgemäss schnell. Während die Regierungen zum Beispiel in Deutschland und Frankreich die Massnahmen nochmals verschärfen, obschon die strengeren Massnahmen zuvor auch zu keinen besseren Resultaten als in der Schweiz führten, wird diese klar gegenläufige Entscheidung des Bundesrats bei den Regierungen dieser Länder als Affront empfunden. Wie schon die frühere Entscheidung, die Skigebiete offen zu lassen, ohne dass sich danach eine Erhöhung des epidemischen Geschehens feststellen liess.
Für die Schweizer Bevölkerung müsste dies eine zusätzliche Motivation sein, durch verantwortungsvolles Handeln und eine strikten Einhaltung der Vorschriften die Zeit bis zur Abschwächung der Pandemie (dank Impfung, TTIQ und natürlicher Immunität) möglichst gut zu überstehen und den «Schweizer Weg» als gangbare Option zu verifizieren. Der Bund und die zuständigen kantonalen Stellen müssen schauen, dass das Tempo erhöht wird und für die Zweitimpfung zurückgestellte Dosen sofort verimpft werden, um möglichst viele Personen, welche die Impfung möchten, so zu schützen.
«Ich hoffe, das erhöhte Tempo bei den Lockerungen wird von einem erhöhten Tempo bei den Gegenmassnahmen begleitet: schneller impfen, mehr und breiter testen, das Contact-Tracing ausbauen.» Epidemiologe Marcel Salathé, NZZ vom 15.04.2021
Der etwas andere Blick auf die Zahlen
Täglich wird die Bevölkerung mit Zahlen zu positiven Tests, Hospitalisationen, Todesfällen, R-Wert, Positivitätsrate etc. auf allen Kanälen informiert, meistens ohne Kontext und Einordnung, was die Zahlen bedeuten. Manchmal ist deshalb ein wenig Distanz hilfreich, um die Relationen und den Kontext wieder zu finden.
Seit Beginn des Jahres 2020 sind in der Schweiz rund 10’000 Menschen an oder mit dem Coronavirus in seinen verschiedenen Mutationen verstorben (BAG am 15.04.2021: 9’865). Das heisst, dass bei fast 8.7 Millionen Menschen, die in der Schweiz leben, 99.88% in dieser Zeit nicht an oder mit dem Virus gestorben sind. In derselben Zeit verstarben 70’000 Menschen an anderen Ursachen. 12.5% der Verstorbenen starben also an oder mit dem Virus. 71% der Verstorbenen waren über 80 Jahre alt, 21% zwischen 70 und 80 Jahre alt. Aktuell haben wir eine signifikante Untersterblichkeit bei den über 65-Jährigen, eine Sterblichkeit an der untersten Erwartungsgrenze bei den bis zu 65-Jährigen.
In der Schweiz werden pro Jahr knapp über 1 Million Menschen hospitalisiert. Im Zeitraum seit Beginn 2020 dürften das also rund 1.3 Millionen Menschen gewesen sein. Im selben Zeitraum wurden 26’000 Menschen, also 2%, als Corona-Patienten hospitalisiert. Aktuell belegen 1’033 Corona-PatientInnen 4.5% der gesamthaft verfügbaren Spitalbetten, die 221 Corona-PatienInnen auf den Intensivstationen belegen dort 24% der verfügbaren Betten.
Der Sommer naht
Die Schweizer Bevölkerung hat nach einem Jahr genügend Informationen, wie sie sich selbst schützen kann (Abstand, Hygiene, Meiden von grossen Menschenansammlungen, Masken bei längeren Aufenthalten in Innenräumen mit mehreren Nichtfamilien-Mitgliedern). Die langsamen Öffnungsschritte ermöglichen den zuständigen Stellen, die Auswirkungen zu erfassen und nötigenfalls Korrekturen anzubringen. Mit erhöhtem Druck zu Impfen, Testen, Tracing, Isolation und Quarantäne (TTIQ) kann der Bundesrat dafür sorgen, dass der Schweizer Weg eine erfolgreiche Alternative darstellt zu harten Lockdowns. Vorausgesetzt, der grösste Teil der Bevölkerung setzt die erforderlichen Massnahmen bis zur Impfung all jener, die sich impfen lassen möchten, um. Die von vielen Experten immer wieder angedrohte Explosion der Situation hat nicht stattgefunden, schauen wir, dass es so bleibt.
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