Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Schuld ohne Sühne
Sünde ist heute fast schon ein Fremdwort und wenn nicht, dann ein Modewort. Streng katholisch erzogen war in meiner Kindheit Sünde etwas Schreckliches und entsprechend belastend. Da faktisch alles, was heute völlig selbstverständlich ist, als Sünde galt, musste ich mich regelmässig im Beichtstuhl erleichtern und danach Abbitte leisten – zig Vaterunser. Das Dumme daran: Lang hielt die sündenfreie Phase nicht an. Bereits auf dem Rückweg von der Kirche hatte ich mich schon wieder versündigt; da gab es den bösen Kurt, der eine Ohrfeige kassierte, weil er mir die Fahrradglocke abschraubte. Oder diese süsse Sibylle an der Eisdiele, in die ich unsterblich verliebt war: Allein Gedanken waren damals schon Sünde. Der Herrgott sieht alles, wie meine Mutter zu sagen pflegte; und so begann das Spiel von Schuld und Sühne immer wieder von Neuem.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski veröffentlichte einen seiner bekanntesten Romane im Jahre 1866. Es geht dort um den Studenten Raskolnikow, der sich – hochbegabt wie er ist – anderen Menschen überlegen fühlt und dabei so weit geht, zwischen Lebenswerten und Lebensunwerten zu unterscheiden. Er wird so zum doppelten Mörder, ohne dass ihn gross Schuldgefühle plagen würden ob seiner Tat. Die kommen erst viel später auf, nachdem er sich der Polizei gestellt hat und zu acht Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt wurde. Statt «Schuld und Sühne» findet sich in einer anderen Übersetzung Dostojewskis Werk der Titel «Verbrechen und Strafe», doch belassen wir es bei Schuld, denn die ist zeitgemässer denn je. Notabene nicht die Schuld meiner Kindheit und frühen Jugend, von der man sich wenigstens mal für ein paar Minuten reingewaschen fühlte, die ist längst Alltag. Inzwischen regelt ohnehin das Gewissen, was früher der Pfarrer – vermeintlich – einrenkte. Die Rede ist von der Schuld der öffentlichen Hand, welche immer mehr aus dem Ruder läuft. Auch hier gilt offenbar, dass nicht mehr alles Sünde ist, was als solche mal galt. 60% maximaler Anteil der Staatsschulden und 3% der öffentlichen Defizite am BIP schwebten den Europäern mal als Ende der Fahnenstange vor, als sie den Euro ins Leben riefen. Wer höher lag, galt als Sünder und gefährdete den auf diesen Festen errichteten Stabilitätspakt. Wenn noch annähernd etwas gilt, was bei der Gründung der Eurozone als unüberwindbar galt, müsste man inzwischen von Todsündern sprechen.
In Japan wird seit jeher gesündigt. Die nationale Verschuldung beträgt 256% des nationalen BIP. Griechenland liegt bei 213%, Italien bei 156%. Die Staatsverschuldung in der Eurozone liegt bei 102%, die in Grossbritannien bei 110%. Global liegt die Staatsschuld gemäss Internationalem Währungsfonds (IWF) bei einem Wert von 89%. Corona hat die Defizite weltweit nochmals explodieren lassen und nun steht die Welt einzigartig hoch in der Kreide. An jedem meiner Vorträge, vor welchem Publikum auch immer, taucht früher oder später die Frage nach der Staatsverschuldung auf. Wer soll das einmal bezahlen und wie, sind dabei die häufigsten, verbunden mit der Befürchtung einer erneuten Schuldenkrise, sei es in Europa, den USA oder wo auch immer. Nun habe ich darauf stets eine mit jeder Wiederholung immer naiver erscheinende Antwort. Wer die Schulden einmal gemacht hat, muss sie wohl auch irgendwann zurückzahlen. Und kann er das nicht, muss jemand anders dafür geradestehen. Ich hatte für solche Fälle bis in meiner frühen Jugend, in der ich manchmal über die Verhältnisse lebte, eine grosse Schwester.
Je länger je mehr scheint Schulden zu begleichen nicht mehr die herrschende Doktrin zu sein. Mit der Finanzkrise und der nachfolgenden Eurokrise wurde das Fundament etwelcher Stabilitätspakte aus den Angeln gehoben. Man redet nicht mehr davon, wie viel Schulden (noch) gemacht werden können und kritisiert sogar eher das beengende Korsett von Eckwerten wie Schuldenobergrenzen etc. Da spielt Corona natürlich der Politik in die Hände, denn auch in breiten Bevölkerungskreisen besteht ein Konsens, dass es die immensen Finanzspritzen jüngst einfach brauchte, um Ärgeres abzuwenden. In der deutschen Presse war letzte Woche zu lesen, dass die deutsche Politik zu sehr auf Schulden fixiert sei und sich zu wenig um die Zukunft bemühe. Aha, Schulden haben demnach nichts mit der Zukunft zu tun. Schliesslich, so das einfache Argument, hätte die Zinsbelastung ja trotz höherer Schulden abgenommen. Diese Zinslast soll nun ein Gradmesser der zukünftigen Finanzpolitik werden. Doch wie wir alle wissen, ist die tiefe Zinslast kein Verdienst umsichtiger Exekutiven, sondern das Werk allmächtig gewordener Zentralbanken, der grossen Schwestern der Schuldenmacher. Schuldenmachen gilt bei diesen neuen fiskalpolitischen Dogmatikern als neue Doktrin. Wer zu sehr auf die Ausgabenbremse tritt, wird mit dem typischen deutschen Dogmatismus in Verbindung gebracht, der im angelsächsischen Raum schon länger verpönt ist. Dort hat die Finanzindustrie indes ein ganz anders Gewicht und die lebt bekanntlich zu einem unanständigen Teil auch von Schulden. Das ist dort deren Geschäftsfeld Nummer eins.
Man will im Grunde die Monetarisierung der Staatsschulden weiter vorantreiben und damit traden, was das Zeug hält, mit dem Vorwand, es den Staaten so zu ermöglichen, immer mehr Geld auszugeben, das noch gar nicht durch reale Wertschöpfung verdient wurde und wohl auch niemals verdient wird. Aber wird das wirklich der globale Konsens der Zukunft sein? Was machen dann die wenigen, die noch solide wirtschaften? Sie müssten regelrecht mitklotzen, um nicht den Anschluss zu verlieren, obwohl sie den Beweis erbracht haben, dass es auch anders geht, dass man Schuld eben sühnt. Nur fürchte ich, dass wir hier allmählich von einer aussterbenden Spezies reden. Schuld ohne Sühne ist halt einfach der bequemere Weg und daher wohl nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Zumal es immer mehr Vertreter der Lehre und selbsternannte Thinktanks gibt, die den Standpunkt vertreten, dass die Schulden (in Inlandswährung) beliebig wachsen können. Damit könnte man dann auch gleich noch die Umwelt retten und ein paar weitere Billionen locker machen. Die akademische Lehre gibt der grossen Leere in den Staatskassen richtig grünes Licht und der ausgabefreudigen Politik damit ein gutes Gewissen.