Russland räumt viele Tote ein – Neue EU-Sanktionen
Brüssel/Kiew/Moskau – Sechs Wochen nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat die Führung in Moskau erstmals grosse Verluste in der Truppe eingeräumt. «Wir haben bedeutende Verluste, das ist eine gewaltige Tragödie für uns», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag dem britischen Sender Sky News. Angesichts der Gräueltaten an Hunderten Bewohnern in der Region Kiew, wo die Russen abgezogen sind, verschärft die Nato ihren Kurs: Die Allianz will nun mehr und auch schwere Waffen an die Ukraine liefern. Die EU-Staaten billigten neue Russland-Sanktionen samt einem Kohle-Embargo, und die UN-Vollversammlung setzte die Mitgliedschaft Russlands im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen aus.
Zuletzt hatte Russland noch von 1351 getöteten eigenen Soldaten gesprochen. Die Ukraine schätzt dagegen, dass knapp 19 000 russische Soldaten getötet wurden. Überprüfbar ist das nicht. Die Schuld an zivilen Opfern in der Ukraine gab Peskow ausschliesslich den ukrainischen Kräften. «Unsere Militär tut sein Bestes, um diese Operation zu beenden», sagte er.
Russland fliegt aus dem UN-Menschenrechtsrat
Für die Suspendierung Russlands aus dem Menschenrechtsrat stimmten 93 UN-Mitglieder, darunter Deutschland und die USA. 58 Mitglieder enthielten sich. 24 Mitglieder stimmten dagegen, darunter neben Russland unter anderem noch Algerien, Bolivien, China, Kuba, Nordkorea, Eritrea, Äthiopien, der Iran und Syrien. Als Reaktion erklärte Russland seine Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat noch am Abend selbst vorzeitig für beendet. Nach wie vor bleibt Russland aber Mitglied der Vereinten Nationen – und als ständiges Mitglied mit Veto-Recht im Sicherheitsrat auch eines der mächtigsten.
Nato will nun schwere Waffen an Kiew liefern
Bei einem Aussenministertreffen der Nato-Staaten wurde ein radikaler Kurswechsel in der Frage der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine deutlich. Die Nato-Staaten verständigten sich auf zusätzliche Militärhilfe. Noch vor rund zwei Wochen war eine Lieferung schwerer Waffen in dem Verteidigungsbündnis ausgeschlossen worden – wegen der Sorge, dass Russland auch gegen Nato-Staaten vorgehen könnte. Mehrere Teilnehmer bestätigten nun im Hintergrund, dass das Nato-Land Tschechien bereits Kampfpanzer auf den Weg in die Ukraine gebracht hat. Weitere Details zu den geplanten Lieferungen gab es nicht.
Vor der erwarteten russischen Offensive im Osten der Ukraine forderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mehr Unterstützung aus dem Westen. Sollte es kein «wirklich schmerzhaftes Sanktionspaket» und keine Lieferung der angeforderten Waffen geben, werde Russland dies als «Erlaubnis zum Vormarsch» sehen, warnte er. Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba drang bei den Nato-Staaten auf mehr Tempo. «Entweder Sie helfen uns jetzt, und ich spreche von Tagen, nicht von Wochen, oder Ihre Hilfe wird zu spät kommen.»
Behörden: 9 von 10 getötete Zivilisten in Butscha haben Schusswunden
Im Kiewer Vorort Butscha verdichten sich nach Angaben der örtlichen Behörden die Hinweise auf russische Kriegsverbrechen. Etwa 90 Prozent der getöteten Zivilisten wiesen Schusswunden auf, sagte Bürgermeister Anatolij Fedoruk am Donnerstag der Deutschen Welle. Mit Stand Mittwochabend seien in Butscha 320 Leichen gefunden worden. «Aber die Zahl der entdeckten Leichen steigt mit jedem Tag», sagte Fedoruk.
Dem Bundesnachrichtendienst (BND) liegen abgefangene Funksprüche russischer Militärs vor, die an der ukrainischen Zivilbevölkerung verübte Gräueltaten unweit von Kiew belegen. Wie der «Spiegel» am Donnerstag zuerst berichtete, informierte der Auslandsgeheimdienst am Mittwoch Parlamentarier über den Inhalt der Funksprüche. Diese zeigen nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur, dass ausserhalb von Kiew im März auch paramilitärische Einheiten im Auftrag der russischen Armee eingesetzt waren.
Amnesty berichtet von Hinweisen auf neue Kriegsverbrechen
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtete am Donnerstag unter Verweis auf ukrainische Augenzeugen von neuen Hinweisen auf russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Russische Truppen hätten ihren Informationen zufolge wiederholt unbewaffnete Menschen in deren Häusern oder auf offener Strasse erschossen, teilte die Organisation mit. In einem Fall sei eine Frau mehrfach vergewaltigt worden, nachdem ihr Mann getötet worden sei. Ein Amnesty-Team sprach den Angaben zufolge in den vergangenen Wochen mit mehr als 20 Menschen aus Orten nahe Kiew, die russische Gewalttaten miterlebt oder unmittelbar Kenntnis erhalten hätten.
Russland: Ukraine sabotiert Friedensverhandlungen
Russlands Aussenminister Sergej Lawrow warf der Ukraine eine Sabotage der Friedensverhandlungen vor. Die Ukraine habe sich bei einem vorigen Treffen zu einem blockfreien, neutralen Status verpflichtet und versichert, internationale Militärübungen auf ihrem Territorium nur mit Zustimmung aller künftigen Garantiemächte durchzuführen, darunter auch Russland, sagte Lawrow am Donnerstag der Agentur Interfax zufolge. In der neuen Fassung der Vereinbarung hingegen spreche Kiew nur noch von der «Mehrheit der Garantiemächte» und Russland werde nicht mehr erwähnt, klagte der russische Chefdiplomat.
Russland war am 24. Februar in die Ukraine einmarschiert. Vier Tage nach der Invasion begannen die ersten Verhandlungen für eine Beendigung der Kampfhandlungen. Nach der Verhandlungsrunde in Istanbul hat Moskau erklärt, seine Truppen vor Kiew abzuziehen und sich auf die Kämpfe im Osten der Ukraine zu konzentrieren. Kremlsprecher Peskow behauptete am Donnerstag, die russischen Truppen seien aus den Gebieten Kiew und Tschernihiw zurückgezogen worden, um «guten Willen» während der Verhandlungen zu zeigen.
EU-Importstopp für Kohle, Holz und Wodka aus Russland
Die 27 EU-Staaten brachten am Donnerstag das fünfte grosse Paket mit Russland-Sanktionen auf den Weg. Die ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten billigten am Abend Vorschläge der EU-Kommission, die einen Importstopp für Kohle, Holz und Wodka sowie zahlreiche weitere Strafmassnahmen vorsehen. Auch soll russischen Schiffen sowie von Russland betriebenen Schiffen das Einlaufen in EU-Häfen verboten werden.
Auch Putins Töchter werden sanktioniert
Weitere Personen aus dem Umfeld des russischen Präsidenten kommen zudem auf die Sanktionsliste – sie dürfen damit nicht mehr in die EU einreisen, etwaige Vermögen in der EU werden eingefroren. Unter den Betroffenen sind auch die beiden Töchter von Putin. Nach Angaben der US-Regierung, die ebenfalls Putins Töchter sanktioniert, ist Katerina Wladimirowna Tichonowa eine technische Führungskraft, die mit ihrer Arbeit die russische Regierung und die Verteidigungsindustrie unterstützt. Ihre Schwester Maria Wladimirowna Woronzowa leitet demnach staatlich finanzierte Programme, die vom Kreml mit Milliardensummen für die Genforschung gefördert und von Putin persönlich überwacht werden. Über Putins Töchter ist wenig bekannt. Tichonowa ist 1986 geboren, ihre Schwester 1985. (awp/mc/pg)