Weitere Luftangriffe in der Ukraine – Truppenkonzentration im Osten
Kiew / Moskau – Russland setzt seine Luftangriffe in der Ukraine unvermindert fort und bietet dem angegriffenen Nachbarland zugleich schriftlich neue Verhandlungen an. «Jetzt wurde der ukrainischen Seite unser Entwurf des Dokuments übergeben, der absolut klare und ausgefeilte Formulierungen beinhaltet», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch der Agentur Interfax zufolge. Angaben zum Inhalt machte er nicht. Die russischen Luftstreitkräfte haben nach eigenen Angaben in der Nacht 73 militärische Ziele in der Ukraine bombardiert. Kiew meldete einen massiven russischen Truppenaufmarsch im Osten des Landes. Aus Mariupol kam ein dramatischer Appell.
Wann es neue Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine geben könnte, ist noch offen. Peskow erklärte, es gebe zwar keine Frist, bis wann Kiew auf das Angebot antworten müsse. Doch zugleich machte er deutlich, dass Moskau mit dem bisherigen Verhandlungstempo unzufrieden sei. «Wir haben schon mehrmals gesagt, dass die Dynamik der Arbeit der ukrainischen Seite zu wünschen übrig lässt», sagte Peskow. Nun sei «der Ball auf der Seite» der Ukrainer.
Kiew will nicht über Verzicht von Staatsgebiet verhandeln
Die Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew hatten am 28. Februar begonnen, vier Tage nach dem von Russlands Präsident Wladimir Putin befohlenen Angriff auf die Ukraine. Russland forderte bisher unter anderem die Neutralität der Ukraine und die Abtretung der Gebiete Donezk und Luhansk sowie die Anerkennung der Halbinsel Krim als russisch. Kiew lehnt es kategorisch ab, auf eigenes Staatsgebiet zu verzichten.
Grosser russischer Truppenaufmarsch im Osten
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj berichtete in einer Videobotschaft von einem grossen russischen Truppenaufgebot im Osten. «Jetzt ist praktisch der gesamte kampfbereite Teil der russischen Armee auf dem Territorium unseres Staates und in den Grenzgebieten Russlands konzentriert.»
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs blieben russische Versuche erfolglos, die Städte Rubischne und Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk zu stürmen. Schwere Gefechte habe es zudem um Marjinka, Popasna, Torske, Selena Dolyna und Kreminna gegeben. Russlands Streitkräfte beschossen nach eigenen Angaben 1053 Militärobjekte. Von unabhängiger Seite konnten diese Angaben nicht bestätigt werden.
Ukraine Marineinfanteristen möchten in Drittstaat evakuiert werden
Unterdessen bat der Kommandeur der verbliebenen Marineinfanteristen in der schwer umkämpften Hafenstadt Mariupol um Evakuierung in einen Drittstaat. Er deutete damit auch an, aufgeben zu wollen. Bisher hatten die Ukrainer dies abgelehnt. «Der Feind ist uns 10 zu 1 überlegen», sagte Serhij Wolyna, Kommandeur der ukrainischen 36. Marineinfanteriebrigade, in einer am frühen Mittwochmorgen auf Facebook veröffentlichten einminütigen Videobotschaft.
Die ukrainische Seite verteidige nur ein Objekt, das Stahlwerk Asowstal, wo sich ausser Militärs noch Zivilisten befänden. Der Kommandeur bat, das Militär der Mariupol-Garnison, mehr als 500 verwundete Kämpfer sowie Hunderte Zivilisten in einem Drittland in Sicherheit zu bringen. «Das ist unser Appell an die Welt», sagte Wolyna. «Das könnte der letzte Appell unseres Lebens sein.»
Die südostukrainische Hafenstadt Mariupol wurde am 1. März kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs komplett von russischen Truppen eingeschlossen. Die Stadt und auch der Hafen gelten zu grossen Teilen als zerstört. Zuletzt hielten sich russischen Angaben zufolge rund 2500 ukrainische Kämpfer und 400 ausländische Söldner in dem Stahlwerk verschanzt. Ukrainischen Mitteilungen zufolge sollen rund 1000 Zivilisten dort Schutz gesucht haben. Russland hat die ukrainischen Truppen dort bereits mehrmals dazu aufgerufen, sich zu ergeben.
Neuer Fluchtkorridor vereinbart
Für die Zivilisten in Mariupol wurde am Mittwoch nach ukrainischen Angaben ein Fluchtkorridor ausgehandelt. In der Stadt sollen sich noch rund 100 000 Menschen aufhalten. «Uns ist es vorläufig gelungen, einen humanitären Korridor für Frauen, Kinder und ältere Menschen zu vereinbaren», teilte die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk im Nachrichtenkanal Telegram mit. Eine Fahrzeugkolonne soll die Menschen über Berdjansk ins rund 200 Kilometer entfernte Saporischschja fahren.
EU-Ratschef Charles Michel in Kiew
Am Mittwoch reiste EU-Ratschef Charles Michel ist zu einem Besuch in die ukrainische Hauptstadt. «Heute in Kiew», schrieb der Belgier am Mittwochmorgen auf Twitter. «Im Herz des freien und demokratischen Europas.» Dazu postete er ein Foto, das ihn mit Baseball-Kappe am Bahnsteig zeigt, wie er von der ukrainischen Vize-Premierministerin Olga Stefanischina zur Begrüssung umarmt wird. Weniger später besuchte Michel den Kiewer Vorort Borodjanka. «Die Geschichte wird nicht die Kriegsverbrechen vergessen, die hier begangen wurden», schrieb Michel in einem weiteren Tweet mit Fotos, auf denen er neben zerbombten Gebäuden zu sehen ist.
Über fünf Millionen Flüchtlinge
Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar hat die Marke von fünf Millionen überschritten. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in Genf nannte am Mittwoch 5 034 439 Menschen, die die Grenzen in die Nachbarländer überquert haben sollen. Der Grossteil – 2,8 Millionen – flüchtete zuerst nach Polen. (awp/mc/pg)