Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Wissen sie, was sie tun?
Alles redet seit Monaten von Inflation. Im Boulevard wird sie dermassen breitgetreten, dass selbst hierzulande langsam Ängste aufkeimen, da könne etwas aus dem Ruder laufen. In den USA ist dies schon seit längerem der Fall. Auch wenn die Reaktionen der dortigen Zentralbank zumindest darauf hindeuten, dass die obersten Notenbanker das Problem erkannt haben. Sie haben auch schon angetönt, dass sie auf das Gejammer der Finanzmärkte nicht eingehen werden und strikt den Weg zur Preisniveaustabilität weiterverfolgen möchten.
von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen
Das heisst im Klartext: Der Zinserhöhungsrhythmus wird nicht plötzlich unterbrochen werden, nur weil Wall Street hadert und auch selbst dann nicht, wenn die Konjunktur zu lahmen droht. Dafür sind die heutigen Preissteigerungen in Übersee schlichtweg zu hoch.
Das Dilemma wird immer offensichtlicher. Die ursprüngliche Quelle des Preisschubs war zwar kein monetäres Phänomen, sondern ein Zusammentreffen mehrerer höchst unberechenbarer Sonderfaktoren. Der Zusammenbruch der internationalen Lieferketten, der exorbitante Rohstoffpreisanstieg und schon gar nicht die Folgen des Krieges in der Ukraine können durch monetäre Schritte gemildert werden. Vielleicht erklärt dieses Wissen die äusserste Zurückhaltung vieler Zentralbanken und auch das anfängliche Zögern der US-Notenbank. Als sich aber im Frühjahr abzeichnete, dass die Sonderfaktoren sich nicht – wie von vielen prognostiziert – bald schon wieder verflüchtigen würden, wurde das Fed wenigstens aktiv, zaghaft zunächst, inzwischen aber sehr bestimmt.
Davon sind wir in Europa noch ein gehöriges Stückchen entfernt. Selbst wenn es nun ausgemachte Sache zu sein scheint, dass auch die Europäiiche Zentralbank (EZB) im Sommer aktiv werden wird und erste Zinserhöhungen – wobei der Plural noch in den Sternen steht – einleiten wird, dürfte das den jetzt eingeschlagenen Inflationstrend kaum aufhalten können. Da müsste man schon jetzt mit der Brechstange ran. Natürlich kommen die Öl- oder Gaspreise damit nicht runter und China wird deshalb auch nicht plötzlich wieder als Werkplatz der Welt agieren und die Lieferkettenengpässe wieder einrenken. Auch ein Krieg lässt sich geldpolitisch nicht beenden, doch eines lässt sich allenfalls noch unterbinden: namentlich, dass die Inflation sich durch die Wirtschaft frisst. Oder ökonomisch ausgedrückt: Auch die Kernrate der Inflation in Europa wird weiter zulegen, weil sich immer mehr Unternehmen nicht mehr im Stande sehen, die gesamte Last der gestiegenen Vorleistungskosten allein zu tragen und sie deshalb vermehrt auf die Endverbraucher überwälzen werden.
Noch liegt die Kernrate im Euroraum bei «lediglich» 3.5 %. Das ist zwar nicht annähernd so hoch wie in den USA, wo sie bereits 6.2 % beträgt, aber auch die 3.5 % liegen deutlich über der Toleranzschwelle der EZB. So bleibt ihr keine andere Wahl, als auf Aktion statt auf Hoffnung zu setzen. Natürlich will sich kein Notenbankverantwortlicher in der Welt jemals vorwerfen lassen müssen, er habe mit zu forschen Zinserhöhungen eine Rezession losgetreten, doch dafür wird ohnehin die steigende Inflation sorgen, wenn sie erst einmal richtig breit auf die Kaufkraft drückt. Also ist die der erste «Feind» und Rücksicht auf Bewertungen an den Finanzmärkten sowie auf höhere Zinslasten für die unseriösen Staatshaushalte ist jetzt verfehlt. Aber vielleicht ist es ja ohnehin schon zu spät. Und die Hoffnungen auf eine plötzliche und erst noch synchrone Normalisierung der Sondereffekte sind ein schwaches, wenig probates Mittel. Das ging schon Anfang des Jahres schief.
Sichtlich entspannter können wir es hierzulande angehen lassen. Zumindest lässt sich die Schweizerische Nationalbank (SNB) nicht aus der Reserve locken und beobachtet vor allem mal. Klar, die Kerninflation hier lag im Mai bei 1.7 % im Vorjahresvergleich, während die Gesamtrate um 2.9 % anzog. Da kann man schon etwas entspannter sein als anderswo, doch eigentlich wäre es auch in der Schweiz an der Zeit, laut über erste Zinsschritte nachzudenken. Für einmal als erste und nicht wie üblich als Trittbrettfahrer abwarten, bis «die anderen», vor allem natürlich die EZB, aktiv werden. Wenn sich der SNB in den letzten Jahren einmal das Fenster aufgetan hatte, das unsägliche Negativzinsregime endlich abzuschütteln, wann dann, wenn nicht jetzt?
Der Franken wird das verkraften können. Er ist ohnehin latent am Aufwerten, da die Inflationsdifferenzen, vor allem zur Eurozone, einzigartig hoch sind. Es dürfte der SNB auch nicht entgangen sein, dass gerade jetzt eine starke Währung den hohen Druck, der von Importpreisen kommt, abdämpfen könnte. Der Franken hat dies bereits in den letzten Monaten getan, denn wir stöhnen zwar auch unter hohen Energiepreisen, aber nicht annähernd so stark wie andere Länder. Und wir müssen aufpassen, dass auch hierzulande kein Überwälzungsmechanismus in Gang gesetzt wird, der letztlich auch zu einem Überschiessen der Kernrate führen wird. Von den Löhnen ganz zu schweigen. Von daher bleibt nur zu hoffen, die Obersten der SNB wissen hoffentlich, was sie tun (sollten). Doch zuallererst: Weg mit den Negativzinsen. So wie es die Akteure mit ihrer Zinswende am Kapitalmarkt schon längst vorweggenommen haben.