Europa-Schluss: Deutliche Verluste – Furcht vor strafferer Geldpolitik
Paris / London – Die Aussicht auf eine unerwartet straffe Geldpolitik zur Bekämpfung der hohen Inflation hat am Donnerstag den EuroStoxx 50 stark belastet. Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) kündigte in Amsterdam an, im Juli die Leitzinsen im Euroraum um jeweils 0,25 Prozentpunkte anheben zu wollen. Bemerkenswert sei aber vor allem, dass die Notenbank-Oberen für die September-Ratssitzung bereits eine weitere Straffung der Zinszügel in Aussicht gestellt hätten, schrieb Analyst Christian Reicherter von der DZ Bank und fuhr fort: «In Abhängigkeit des mittelfristigen Inflationsausblicks wollen die Währungshüter darüber entscheiden, inwieweit zu diesem Zeitpunkt sogar ein grösserer Zinsschritt um 0,5 Prozentpunkte angebracht sein könnte.»
Der EuroStoxx als Leitindex der Eurozone weitete seine jüngsten Verluste deutlich aus und sackte um 1,70 Prozent auf 3724,45 Punkte ab. Sein französisches Pendant, der Cac 40 , fiel um 1,40 Prozent auf 6358,46 Punkte. Für den den FTSE 100 in London ging es um 1,54 Prozent auf 7476,21 Punkte nach unten.
Thomas Altmann vom Vermögensverwalter QC Partners ergänzte, dass die Währungshüter auch ihre Inflationsprognosen kräftig angehoben hätten, was die Anleger «auf dem falschen Fuss erwischt» habe. «Mit einer so deutlichen Anpassung nach oben hin haben die wenigsten gerechnet.» Dies drückte auf die Kurse an Europas Börsen und sorgte laut Altmann für einen «Ausverkauf» an den Anleihenmärkten, wo im Gegenzug die Renditen kräftig stiegen.
Ähnlich äusserte sich Christian Lips, Chefvolkswirt der Landesbank NordLB. Ein wichtiges Signal für die Zinspolitik sei, dass bei den Projektionen der EZB erstmals auch für 2024 und damit durchgängig bis zum Ende des Prognosehorizonts eine dauerhafte Verfehlung des Inflationsziels von mittelfristig 2,0 Prozent erwartet werde. Konjunkturell werde von einem dämpfenden Effekt der Preissteigerungen auf das Wirtschaftswachstum der Eurozone ausgegangen.
Insofern gab es am Donnerstag branchenweit nur Verlierer. Die deutlichsten Abschläge verzeichnete der Immobiliensektor mit einem Minus von 2,9 Prozent. Er leidet zweifach unter höheren Zinsen: Zum einen steigen die Kreditkosten, zum anderen werden die zumeist üppigen Dividendenzahlungen der Immobilienunternehmen weniger attraktiv, wenn Zinssparen wieder an Attraktivität gewinnt.
Dass die rekordhohe Teuerung die Kauflust vieler Verbraucher hemmt, spüren unterdessen immer mehr Einzelhändler. Nach einem ernüchternden Bericht des schwedischen Online-Modehändlers Boozt und einer gesenkten Jahresprognose brachen die Papiere in Stockholm um mehr als 18 Prozent ein. Im Sog dessen sackten die Anteilsscheine des Einzelhändlers Sainsbury am «Footsie»-Ende um fast sechs Prozent ab.
Anteilsscheine des britischen Wasserstoff-Spezialisten ITM Power rutschten nach einem enttäuschenden Zwischenbericht um mehr als 18 Prozent ab. Damit fanden sie sich auf dem Niveau von Ende Februar wieder. Umsatz und operatives Ergebnis hätten seine Erwartungen verfehlt, schrieb JPMorgan-Analyst Patrick Jones.
Dagegen stiegen nach der Vorlage der Jahreszahlen die Aktien des Nahrungsmittelherstellers Tate & Lyle im London um mehr als zwei Prozent. Jefferies-Analyst Martin Deboo sprach zwar von erwartungsgemässen Resultaten, doch impliziere der Ausblick, dass die Umsatzerwartungen am Markt nun steigen könnten. (awp/mc/ps)