Gian Saratz, Geschäftsführer WePractice, im Interview
von Patrick Gunti
Moneycab.com: Herr Saratz, WePractice will Menschen dabei unterstützen, ihre mentale Gesundheit nachhaltig zu verbessern. Wie definieren Sie mentale Gesundheit?
Gian Saratz: Mentale Gesundheit umfasst unser emotionales, psychisches und soziales Wohlbefinden und ist eine wesentliche Voraussetzung, damit wir unser Leben und unseren Alltag bewältigen, produktiv arbeiten und sozial an der Gesellschaft teilhaben können.
Die Nachfrage nach psychologischen und psychotherapeutischen Angeboten ist stark gestiegen. Würden Sie widersprechen, wenn man von einer eigentlichen Volkskrankheit spricht?
Psychische Erkrankungen sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Gleichzeitig gibt es eine Unterversorgung von psychotherapeutischen und psychologischen Hilfeleistungen. Das kann Schaden in der Bevölkerung anrichten. Hilfesuchende müssen aufgrund langer Wartezeiten für einen Therapieplatz unnötig lange Leid ertragen oder ihr Zustand verschlechtert sich durch die fehlende Unterstützung. Arbeitsausfälle bedingt durch psychische Erkrankungen können nicht nur wirtschaftlichen Schaden für die Betroffenen verursachen, sondern auch hohe Kosten für die Gesellschaft zur Folge haben.
«Arbeitsausfälle bedingt durch psychische Erkrankungen können nicht nur wirtschaftlichen Schaden für die Betroffenen verursachen, sondern auch hohe Kosten für die Gesellschaft zur Folge haben.»
Gian Saratz, Geschäftsführer WePractice
Wir sehr hat die Covid-19-Pandemie die Situation verschärft?
Die Pandemie hat uns Menschen stark verunsichert und unterschiedliche Ängste hervorgerufen, sei es Angst vor Krankheit (Covid), existenzielle Ängste oder Zukunftsängste, aber auch soziale Ängste waren nur einige Folgeerscheinungen. Die Verunsicherungen haben uns mental stark herausgefordert.
Hinzu kommt, dass das menschliche Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und sozialer Gemeinschaft durch Lockdowns und Homeoffice-Pflicht über längere Zeit nicht erfüllt wurde. Das hat viele Menschen unglücklich und sogar krank gemacht. Die Nachfrage nach Psychotherapien und psychologischen Beratungen ist während der Pandemie gestiegen und hält nach wie vor an.
Welche Entwicklung haben Sie in den letzten Jahren beim Umgang mit psychischen Erkrankungen realisiert? Ist man offener als früher, sich Probleme einzugestehen? Hat eine gewisse Enttabuisierung stattgefunden?
Psychische Gesundheit ist in der Schweiz noch immer stark stigmatisiert. Bei WePractice verfolgen wir das Ziel, einen Beitrag zur Enttabuisierung zu leisten, dazu gehört auch Aufklärungsarbeit.
Ergänzend dazu wollen wir allen Menschen in der Schweiz die bestmögliche psychotherapeutische und psychologische Unterstützung zugänglich machen, und zwar dort, wo die Menschen sie brauchen und dann, wenn Hilfe benötigt wird. Wir bauen daher schweizweit in allen grösseren Städten ein Netz an WePractice Standorten, sodass Menschen schnelle Hilfe in ihrer Nähe finden. Denn: Das Leben ist keine gerade Linie, jeder hat Up-and-downs und niemand muss mit seinen Problemen allein sein.
«Psychische Gesundheit ist in der Schweiz noch immer stark stigmatisiert. Bei WePractice verfolgen wir das Ziel, einen Beitrag zur Enttabuisierung zu leisten, dazu gehört auch Aufklärungsarbeit.»
Sie haben es gesagt, Therapieplätze sind Mangelware, die Wartezeiten für eine Behandlung lang. Worauf ist das zurückzuführen – die steigende Patientenzahl? Mangel an Therapeutinnen und Therapeuten? Die Zulassungsverfahren?
Das hat mehrere Gründe: Schon während des Delegationsmodells war die Nachfrage nach Psychotherapien grösser als das Angebot. Das am 1. Juli neu in Kraft getretene Anordnungsmodell [BSM1]* verspricht nun Änderung, kurzfristig wird es aber noch Engpässe geben. Denn PatientInnen können Psychotherapien nun einfacher über die Grundversicherung abrechnen, was eine steigende Nachfrage mit sich bringen wird. Gleichzeitig gibt es nicht ausreichend Angebote, da bei TherapeutInnen bzgl. den Abrechnungstarifen noch eine Verunsicherung spürbar ist. Einige wechseln sehr zögerlich ins Anordnungsmodell, was eine kurzfristige Unterversorgung mit sich bringen könnte. Erschwerend für die Deckung der Nachfrage kommt hinzu, dass zu wenig TherapeutInnen ausgebildet werden. Die Psychotherapeuten-Ausbildung ist kostspielig und dauert drei Jahre. Es besteht ausserdem eine Unsicherheit bezüglich der Leistungsdeckung von TherapeutInnen in Weiterbildung durch die Krankenkassen.
Erst 2020 gestartet, setzt WePractice als Tochtergesellschaft und Teil der Gesundheitsstrategie der Migros auf einen ambitionierten Wachstumsplan. Wie sehen die einzelnen Schritte aus?
Konkret möchten wir einerseits das bestmögliche Arbeitsumfeld für TherapeutInnen schaffen, damit sie mehr Zeit haben und sich vollkommen auf ihre KlientInnen fokussieren können. Das erreichen wir mit unseren modernen Praxisgemeinschaften, in welchen TherapeutInnen eine optimale Infrastruktur vorfinden und wir sie rundum unterstützen. Der Plan ist, ein schweizweites Netzwerk von Praxisgemeinschaften zu etablieren. Damit ermöglichen wir der Schweizer Bevölkerung Zugang zu Therapieangeboten in ihrer Nähe und tragen dazu bei, Zugangsbarrieren abzubauen. Bis Ende des Jahres haben wir zehn Standorte in der Schweiz. Für das kommende Jahr 2023 stehen bereits weitere Eröffnungen auf dem Plan. Derzeit sind wir ausschliesslich in der Deutschschweiz vertreten, ein nächster Schritt wird die Expansion in die Romandie sein.
Wie präsentiert sich das Konzept von WePractice? Welche Vorteile haben Psychologinnen und Psychotherapeuten bei einer Zusammenarbeit von WePractice?
Selbstständige TherapeutInnen profitieren als Mitglied von einem einzigartigen Leistungspaket, das auf Stunden- oder Tagesbasis flexibel buchbare und voll ausgestattete Therapieräume und Unterstützung bei der Vermittlung von KlientInnen sowie bei der Leistungsabrechnung beinhaltet. Ergänzend dazu gibt es einen Coworking-Bereich, in dem administrative Arbeiten erledigt werden können und Raum für das Gespräch mit KollegInnen bietet. Alle Fachpersonen bei WePractice sind im Therapeutenverzeichnis auf der Online-Plattform www.wepractice.ch abgebildet und werden im Detail vorgestellt.
Wir sind ausserdem dabei, eine Community zu etablieren, um den sozialen und beruflichen Austausch weiter zu fördern. Events und Weiterbildungen wie beispielsweise ExpertInnentalks, Supervisionen oder Intervisionen sind nur einige nennenswerte Massnahmen, die in Planung sind.
«Der Plan ist, ein schweizweites Netzwerk von Praxisgemeinschaften zu etablieren. Damit ermöglichen wir der Schweizer Bevölkerung Zugang zu Therapieangeboten in ihrer Nähe und tragen dazu bei, Zugangsbarrieren abzubauen.»
Es gibt eine Vielzahl psychischer Erkrankungen oder Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit und ganz unterschiedliche Therapien. Wie stark ist das Netzwerk von Therapeutinnen und Therapeuten darauf abgestimmt?
Wir legen grossen Wert darauf, dass wir in unserem Netzwerk TherapeutInnen mit anerkannten therapeutischen Ausbildungen und unterschiedlicher Spezialisierungen und Therapieformen aufnehmen, um einerseits eine hohe Qualität sicherstellen sowie andererseits die verschiedenen Bedürfnisse abdecken zu können.
Das Angebot ist umfangreich: Von Prävention zur Vorbeugung psychischer Erkrankungen über diverse Beratungsangebote bis hin zu einer Vielzahl an Therapieformen und Coachings decken die über 100 TherapeutInnen, die bereits Mitglied bei WePractice sind, alles ab. Besonders wichtig ist uns, dass wir den Menschen vermitteln, frühzeitig Hilfe aufzusuchen. Aus der Wissenschaft wissen wir, dass psychische Störungen, welche zu spät behandelt werden, zu einem schwereren Verlauf bis hin zu einer Chronifizierung führen können. Unser ganz klares Ziel ist es, die mentale Gesundheit der Menschen in der Schweiz zu fördern und zu verbessern.
Als Lead Venture Architect bei Sparrow Ventures waren Sie seit Projektstart dabei und haben jetzt die Geschäftsführung von WePractice übernommen. Was war der Auslöser für das damalige Projekt?
Bei Sparrow Ventures entwickeln wir innovative Geschäftsmodelle in den strategisch wichtigen Bereichen der Migros. Gesundheit ist ein zentraler strategischer Wert der Migros. Als wir den Gesundheitsmarkt genauer analysiert haben, stellten wir einen Bedarf im Bereich mentaler Gesundheit fest. Zudem sind wir auf die potentielle regulatorische Änderung des Anordnungsmodells aufmerksam geworden und antizipierten dadurch eine grosse Chance im Markt. Wir haben uns ein gründliches Verständnis erarbeitet und überlegt, welche möglichen Auswirkungen diese Veränderung auf den Markt und die TeilnehmerInnen haben könnte und was wir entwickeln könnten, um dazu einen Beitrag leisten zu können.
Wenig später wurde die Idee für WePractice geboren. Den Piloten des ersten Standortes haben wir in der Annahme eröffnet, dass die regulatorische Veränderung eintreten würde. Genau einen Monat nach der Eröffnung der ersten Praxisgemeinschaft am Bahnhof Stadelhofen in Zürich hat das BAG dann den Beginn des Anordnungsmodells auf den 1. Juli 2022 angesetzt. Unser Timing war perfekt und wir haben WePractice auch aufgrund der hohen Akzeptanz im Markt weiter ausgebaut.
Wie blicken Sie auf die rasante Entwicklung der letzten zwei Jahre zurück?
Ich bin sehr stolz auf das Team, das WePractice die ersten zwei Jahre zusammen entwickelt hat und wie wir den Lean-Startup-Ansatz mit Disziplin verfolgt haben, um die richtigen Lösungen und Dienstleistungen zu entwickeln. Ich freue mich nun sehr, unsere Strategie mit einem grösseren Team umzusetzen und unsereMission zu erfüllen, die bestmögliche psychologische Unterstützung allen Menschen in der Schweiz zugänglich zu machen.
Herr Saratz, besten Dank für das Interview.
* Im Delegationsmodell konnte grundversicherungsgedeckte Psychotherapie nur durch einen Psychiater oder eine Psychiaterin an seine angestellten PsychotherapeutInnen delegiert werden. Durch das Anordungsmodell können nun auch selbständige PsychotherapeutInnen PatientInnen auf Anordnung durch einen Hausarzt behandeln und über die Grundversicherung abrechnen.