Ukraine zeigt trotz Energienot Kampfeswillen – Selenskyj warnt
Kiew – Die Ukraine zeigt trotz massiver russischer Luftangriffe auf Kraftwerke und andere Infrastruktur ungebrochen Kampfeswillen. «Russische Truppen greifen unsere Kraftwerke weiterhin mit Raketen und Drohnen an. Am Ende wird auch eine solche russische Gemeinheit scheitern», sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag in seiner abendlichen Videoansprache.
Russland wolle das Energiesystem der Ukraine zerstören und das Nachbarland noch mehr leiden lassen. «Aber dies mobilisiert nur die internationale Gemeinschaft, uns noch mehr zu helfen und noch mehr Druck auf den Terrorstaat auszuüben», betonte der Präsident. Er warnte zudem vor einem möglichen russischen Anschlag auf ein Wasserkraftwerk im Süden.
Energieprobleme erwartet
Das ukrainische Versorgungsunternehmen Ukrenerho teilte am Abend mit, es erwarte am Freitag infolge der beschädigten Anlagen im ganzen Land vorübergehende Einschränkungen im Energieverbrauch. Bereits am Donnerstag war das Unternehmen zu Stromabschaltungen gezwungen. Der Berater im Präsidialamt in Kiew, Olexij Arestowytsch, schloss längerfristige Probleme nicht aus. «Wir können durchaus vor einer Situation stehen, in der wir Wochen oder sogar Monate ohne Wasser, ohne Licht und Wärme oder mit grossen Einschränkungen sitzen werden.» Er sei aber sicher, dass die Ukrainer die Probleme bewältigen würden.
Selenskyj warnt vor Sprengung eines Staudamms durch Russen
Selenskyj warnte zudem vor einer möglichen Sprengung des Wasserkraftwerks Kachowka. «Russland schafft bewusst die Grundlage für eine gross angelegte Katastrophe im Süden der Ukraine», sagte der Staatschef in einer Videoansprache beim EU-Gipfel. Kiew lägen Informationen vor, dass Moskau das Gelände vermint habe und einen Angriff unter falscher Flagge plane. Unabhängig überprüfen liess sich das nicht.
Sollte das Kraftwerk tatsächlich gesprengt werden, werde es zu massiven Überschwemmungen kommen, die etwa die Stadt Cherson betreffen könnten, warnte Selenskyj. Hunderttausende Menschen könnten betroffen sein.
Bereits seit Tagen lässt die russische Armee Menschen aus dem Gebiet Cherson wegbringen. Tausende Zivilisten sollen bereits auf angeblich sichererem Gebiet sein. Moskau begründet den Schritt offiziell mit einer wahrscheinlich bevorstehenden ukrainischen Gegenoffensive.
UNHCR plant Winterhilfe
Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) will Vertriebenen und Menschen in vom Krieg stark beschädigten Wohnungen in der Ukraine helfen, die kalten Wintermonate gesund zu überstehen. «Wir haben in der Ukraine 390 öffentliche Gebäude so umgebaut, dass dort jetzt 109 000 Schlafplätze vorhanden sind», sagte die stellvertretende UN-Flüchtlingskommissarin Kelly Clements der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Das seien meist Schulen oder Turnhallen. Bulgarien, Tschechien und Moldau benötigten zudem weitere Unterstützung bei der Versorgung ukrainischer Flüchtlinge, führte Clements aus, die diese Woche zu Gesprächen im Bundestag und im Auswärtigen Amt war. «Was uns im Moment am meisten beschäftigt, das ist die Kälte», sagte sie.
Selenskyj dankt Scholz
Selenskyj dankte beim EU-Gipfel in Brüssel in einer Videoansprache Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für die Lieferung des Flugabwehrsystems Iris-T. «Dieses deutsche System schirmt nicht nur den ukrainischen Luftraum ab. Es schützt die europäische Stabilität, indem es den russischen Terror eingrenzt, der sowohl unser Land trifft als auch in Zukunft Ihre Länder», sagte Selenskyj vor den Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten. Das erste System war vor einer Woche an die Ukraine übergeben worden. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow hatte von einer «neuen Ära der Luftverteidigung» gesprochen.
Putin zeigt sich mit Rekruten
In Russland liess sich Kremlchef Wladimir Putin fast acht Monate nach Kriegsbeginn in der Ukraine auf einem Truppenübungsplatz erstmals selbst beim Schiessen mit einem Scharfschützengewehr filmen. Das Staatsfernsehen zeigte am Donnerstag, wie der Oberbefehlshaber liegend unter einem Tarnnetz die Waffe vom Typ Dragunow abfeuerte. Anschliessend sprach er auf dem Areal in Rjasan rund 200 Kilometer südöstlich von Moskau mit Soldaten. Zusammen mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu kontrollierte Putin vor laufender Kamera auch demonstrativ die Ausrüstung der Kämpfer. Der Besuch erfolgte inmitten von Kritik an einer schlechten Vorbereitung russischer Soldaten für den Krieg in der Ukraine.
Lage an der Front schwierig
Selenskyj nannte die Lage an der Front schwierig. Dies betreffe besonders den Donbass im Osten und einige Richtungen im Süden. «Aber wir behaupten uns. Wir verteidigen unser Land. Wir bewegen uns allmählich vorwärts und verdrängen den Feind.» Die Ukraine werde siegen. «Terroristen verlieren immer. Freiheit gewinnt immer.»
USA: Iraner helfen Russland in Ukraine
Nach Erkenntnissen der US-Regierung setzt Russland Kampfdrohnen aus dem Iran im Ukraine-Krieg ein – mit Unterstützung iranischer Kräfte vor Ort. «Wir können heute bestätigen, dass russische Militärangehörige, die auf der Krim stationiert sind, iranische Drohnen gesteuert haben und diese für Angriffe in der gesamten Ukraine eingesetzt haben, darunter auch für Angriffe auf Kiew in den letzten Tagen», sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby. «Wir gehen davon aus, dass iranisches Militärpersonal auf der Krim stationiert war und Russland bei diesen Operationen unterstützt hat.» Russland bestreitet, iranische Drohnen einzusetzen; der Iran bestreitet, sie an Russland geliefert zu haben.
US-Regierung kritisiert Umsiedlungen
Die US-Regierung kritisierte die Umsiedlungen im Gebiet Cherson durch die russische Besatzungsmacht. «Es überrascht uns nicht, dass die Russen mit solch plumpen Taktiken versuchen, Kontrolle über eine Bevölkerung auszuüben, die Putin und seinen Krieg eindeutig ablehnt», sagte die Sprecherin des Weissen Hauses am Donnerstag auf die Frage eines Journalisten. Die Umsiedlungen seien ein weiteres Beispiel der Grausamkeit und Brutalität der Besatzer.
Biden sorgt sich um Ukraine-Hilfe
US-Präsident Joe Biden hat sich besorgt über die weitere militärische Unterstützung der Ukraine im Fall eines Sieges der Republikaner bei den Parlamentswahlen im November gezeigt. Er sei besorgt darüber, weil die Republikaner gesagt hätten, dass sie die Ukraine-Hilfen kürzen würden, sagte Biden am Donnerstag (Ortszeit) bei einem Besuch im US-Bundesstaat Pennsylvania. Im Falle eines Wahlsieges wollten die Republikaner die Unterstützung Kiews nicht wie bisher fortsetzen. Sie verstünden nicht, wie folgenreich und ernst dies wäre, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Osteuropa und die Nato, beklagte Biden. (awp/mc/pg)