Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Bern, we have a problem!

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Bern, we have a problem!
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Mein Jüngster will nicht studieren und hat sich für eine Lehre entschieden. Hauptmotiv dahinter: «Geld verdienen!» Allein das Gefühl, Lohn zu erhalten, war für ihn mehr wert als alle Beschwörungen, dass er das auch noch viel später tun könne und dafür auch mehr verdiene. So wie sein älterer Bruder, der in Zürich studiert. Die Jugend hat bekanntlich viele Facetten und letztlich müssen sie ja auch selber wissen, wohin der Weg sie einmal führen wird.

von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Weniger Facetten hat hingegen der schweizerische Wohnungsmarkt. Junior möchte natürlich gerne auch bald seine eigene Wohnung beziehen, am liebsten mit einem Kumpel eine WG gründen. Doch der Realitätscheck zeigt: Das wird ein verdammt schwieriges Unterfangen. Dabei liegt seine Arbeitsstelle ganz und gar nicht an einem Hotspot des Marktes. Aber mit schmalem Budget wird es auch in der Provinz sehr schnell einmal eng, was er inzwischen schmerzlich zu begreifen scheint. CHF 1500.–. dürfte die Miete für die beiden maximal betragen. Wer den Markt kennt, weiss, wie schwierig das ist. Oder man macht eben Kompromisse bei der Qualität des Wohnens. Solange aber vor allem die eigenen vier Wände prioritär sind und nicht etwa der Ausbaustandard oder möglichst viel Platz das vorrangige Bedürfnis darstellen, dürften die Jungs sogar noch irgendwie fündig werden.

Schwieriger wird es für seinen Bruder. Der wohnt in Zürich supergünstig in einer Studentenwohnung. Seine Freundin lebt in einer WG und jetzt wollen sie vielleicht zusammenziehen. Wer meint, man mache einfach aus zwei eins und die gemeinsame Haushaltsgründung komme am Ende günstiger, täuscht sich. Die beiden werden mindestens das Doppelte aufbringen müssen, wenn das überhaupt reicht. In Zürich kommt erschwerend hinzu, dass man erst mal fündig werden muss. Ohne «Connections» geht in der Stadt gar nichts. Wer auf dem freien Markt sucht, ist schon von Beginn an verloren.

In Baar, wo ich wohne, sind derzeit ganze acht Wohnungen ausgeschrieben. Keine käme für mich infrage, alle zu teuer oder zu klein – ausser diesem schmucken Einfamilienhäuschen für CHF 8’400.– im Monat. Stolzer Preis, muss ich schon sagen. Auch sonst wird hier kräftig abgeschöpft, wenn es um Wohnraum geht, ist Baar doch schliesslich die steuergünstigste Gemeinde der Schweiz. Da muss man dann eben andernorts Abstriche machen. Doch Hand aufs Herz: Wie viele Leute können sich die Preise hier überhaupt noch leisten? Faktisch keiner mehr!

Wer aus privaten oder beruflichen Gründen darauf angewiesen ist, eine neue Wohnung zu finden, der spürt die Härte des Marktes wie kein anderer. Natürlich sind wir insgesamt sehr zufrieden mit unserer individuellen Wohnsituation, was politische Kreise stets ins Feld der Wohnungsnotdebatte führen, doch das gilt «nur» für die bestehenden Wohnverhältnisse. Doch wehe, Veränderungen stehen an: Scheidung, Heirat, Nachwuchs unterwegs, Jobwechsel oder auch nur der Wunsch zum Downsizing zeigen die Grenzen des hiesigen Marktes radikal auf. Während der Markt für Luxusimmobilien verrücktspielt und die Preise in den Himmel schiessen, ist der Markt für preisgünstige Wohnungen wie leergefegt.

Wir haben Wohnungsnot in der Schweiz, was wir schon seit Längerem monieren, aber Bern döst vor sich hin. 65’000 Personen Migrationssaldo, dazu noch etwa gleich viele ukrainische «Flüchtlinge» im Land – ich schreibe das in Anführungszeichen, weil sich manche von diesen das Einfamilienhäuschen in Baar gerade anschauen – und eine Pipeline von Baugesuchen, die den Bau von maximal rund 45’000 Wohnungen in Aussicht stellt, sind keine gute Perspektive für die zukünftige Wohnraumversorgung der Schweiz. Dazu suchen Firmen händeringend nach Fachkräften, die ja wohl auch aus dem Ausland stammen und somit auch in Zukunft den Wohnungsmarkt beanspruchen dürften. Wir selbst wollen auch immer mehr Zimmer, mehr Fläche und überhaupt am liebsten allein wohnen oder maximal mit dem Partner, bloss keine Kinder. Und so stösst eine überbordende Nachfrage auf ein völlig ausgedünntes Angebot.

Das Fazit liegt nahe. Die Angebotsmieten werden wieder steigen, der Referenzzinssatz wird bald steigen und das wird auch die Bestandsmieten wieder nach oben treiben. Der Standort der Superlative, Heimat so vieler Reichen und Schönen, das Land mit einer der höchsten globalen Wettbewerbsfähigkeiten und einer Topstandortqualität, hat ein Problem damit, Normalverdiener mit adäquatem Wohnraum auszustatten. Die Politik schaut ziemlich tatenlos zu, wie diese Normalos sozusagen zu Randständigen werden, aus dem Zentrum in die Agglomeration oder die Peripherie gedrängt werden, um dann täglich im Stau zu stecken oder im überfüllten ÖV, um den kilometerweit entfernten Arbeitsort zu erreichen. Eigentum als Alternative? Fehlanzeige!

Nicht nur hat der Gesetzgeber die Hürden für Normalverdiener faktisch unüberwindbar hoch gemacht, er straft sogar jeden Neuerwerber mit der Steuerpeitsche, indem er ihm einen willkürlichen Eigenmietwert auferlegt. War das damals nicht anders gedacht? Was ehemals als Steueranreiz für Eigentümer gedacht war, ist in Zeiten tiefer Zinsen zur Strafe für diese geworden, aber was noch viel schlimmer ist: Bund und Kantone haben offenbar den Plausch an diesem neuen Steuersubstrat, zu dem sie wie die Jungfrau zum Kinde gelangten, der SNB sei Dank.

Wann beginnen wir hierzulande endlich über die Grenzen des Wachstums zu reden? Und wenn wir dies nicht wollen, dann müssen wir darüber reden, wie wir in nicht helvetischer Geschwindigkeit mal so rasch 50’000 Wohnungen herzaubern, damit das Fachkräftegejammer endlich aufhört. Weder noch, so wie bis anhin, geht nicht mehr. Ich sehe schon die Jungen auf der Strasse, wie damals, «Wo-Wo-Wohnungsnot» skandieren. So locker wie mit dem Energieengpass wird sich der Wohnungsengpass nicht lösen lassen. Er wird somit zum gesellschaftspolitischen Thema Nummer eins der näheren Zukunft werden. Zeit, sich endlich damit zu beschäftigen. (Raiffeisen/mc/pg)

One thought on “Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Bern, we have a problem!

  1. Schöner Artikel und in den meisten Grundzügen zutreffend. Nur Herr Neff, auch Sie arbeiten auf einer Bank, die auch genau bei diesem Treiben sehr gutes Geld mitverdient und unternimmt nichts, was dem Treiben irgend in einer Form ein Ende setzen will. Warum auch?
    Dabei wären Sie und Ihre Mitarbeiter ebenso gefordert, wie auch alle andern die zu dem Thema in Medien darüber schreiben, statt hier zu schreiben eben auch nach Bern an alle Parlamentarier NR, SR sowie BR aber auch an die kantonalen Parlamente unddie Gemeindeparlamente zu schreiben und Druck zu machen. Doch die Bequemlichkeit der Bürger, der Firmen in solchen Sachen ist weit verbreitet, mit dem Schutzargument, «das bringt ja eh nichts». Genau deswegen passiert in solchen wichtigen Sachen nichts. In meinem Umfeld ernte ich leider auch eher mitleidige Blicke, wenn ich sage ich schreibe an die Parlamente bis hin zum BR.

Schreibe einen Kommentar