Umkämpftes Land
Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat militärische Gewalt auf dem europäischen Kontinent Landesgrenzen verschoben. Was bedeutet der Ukrainekrieg für Europa?
Am 18. März 2014, zwei Tage nach einer unrechtmässigen Volksabstimmung über den Status der Krim, erklärte der russische Präsident Wladimir Putin den Beitritt der sogenannten Autonomen Republik Krim zur Russischen Föderation. Heute, fast zehn Jahre später, gehen Expertinnen und Experten davon aus, dass eine militärische Rückeroberung der Krim nicht möglich ist.
Parallelen zur Geschichte
Einige Medienberichte verglichen die internationale Reaktion auf die Annexion der Krim mit der Beschwichtigungspolitik im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs: Um einen Krieg zu vermeiden, erlaubten die Westmächte Hitler in den 1930er-Jahren, sein Territorium auszuweiten, was ihm schliesslich den Einmarsch in Polen ermöglichte. Dieser Angriff entwickelte sich zum tödlichsten militärischen Konflikt der Geschichte, der schätzungsweise 70 bis 85 Millionen Menschen das Leben kostete.
Auf ähnliche Weise ebnete die halbherzige internationale Reaktion auf Russlands Vorgehen im Jahr 2014 Putin den Weg für weitere Ansprüche auf ukrainisches Gebiet. Dies untergrub die Legitimität der Ukraine sowohl als Staat als auch als Nation. In diesem Zusammenhang hielt Putin am 21. Februar 2022 eine Rede, in der er andeutete, dass die Ukraine kein «echtes» Land, sondern ein historischer Teil Russlands sei. Am selben Tag unterzeichnete er ein Dekret, mit dem er die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängig anerkannte. Tatsächlich beanspruchte er jedoch die gesamten Regionen Luhansk und Donezk, einschliesslich jener Gebiete, die weiterhin von der ukrainischen Regierung kontrolliert wurden. Dieses Dekret spielte eine zentrale Rolle für den Beginn des Krieges drei Tage später, am 24. Februar 2022.
«Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat Russland mehrere internationale Abkommen missachtet und ihre Bedeutung damit infrage gestellt.»
Olena Palko
Nur sechs Monate danach verkündete Putin stolz die Eingliederung von «vier neuen Regionen Russlands»: neben Luhansk und Donezk im Osten auch wichtige Gebiete in Cherson und Saporischschja im Süden. Zu diesem Zeitpunkt kontrollierte Russland etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums – eine Fläche so gross wie die Schweiz und Österreich zusammen.
Gebrochene Verträge
Die politischen und administrativen Grenzen zwischen Ländern beruhen auf internationalen Vereinbarungen, ihre Unverletzlichkeit auf dem gegenseitigen Versprechen, die territoriale Integrität der anderen zu respektieren.
Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat Russland mehrere internationale Abkommen missachtet und ihre Bedeutung damit infrage gestellt. Zu nennen sind da zunächst die Helsinki-Vereinbarungen von 1975, in denen sich alle Teilnehmerstaaten – einschliesslich Russlands und der Ukraine als Rechtsnachfolger der Sowjetunion – verpflichteten, «die Grenzen des anderen als unverletzlich zu betrachten» und «jetzt und in Zukunft von Angriffen auf diese Grenzen abzusehen».
Ferner kamen die Unterzeichner überein, «die territoriale Integrität jedes der Teilnehmerstaaten zu achten» und «ebenfalls davon abzusehen, das Hoheitsgebiet des anderen zum Gegenstand einer militärischen Besetzung zu machen». Diese Grundsätze wurden noch einmal 1990 in der Charta von Paris für ein neues Europa nach dem Kalten Krieg bekräftigt. Im Budapester Memorandum von 1994 stimmte die Ukraine zu, alle ihre Atomwaffen an Russland abzugeben, wenn Russland, die USA und das Vereinigte Königreich im Gegenzug «ihre Verpflichtung bekräftigen, von der Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit der Ukraine abzusehen».
Ungesicherte Grenzen
Der aktuelle Krieg zeigt auch, dass selbst in unserem heutigen Zeitalter der Globalisierung, Freizügigkeit und Mobilität ungesicherte Staatsgrenzen die territoriale und nationale Sicherheit eines Landes gefährden können. Während die Westgrenze der Ukraine zu Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg genau abgegrenzt und seit den Osterweiterungen der EU in den Jahren 2004 und 2007 gestärkt wurde, waren die Grenzen im Nordosten des Landes nie genau festgelegt. Die Durchlässigkeit der russisch-ukrainischen Grenze war einer der Gründe dafür, dass es Russland relativ leicht fiel, die Krim zu besetzen und sich in die Angelegenheiten der Ostukraine einzumischen. Und sie ermöglichte es Russland, die Grenzregionen seit Ende Februar 2022 als Basis für Luftangriffe auf ukrainische Städte zu nutzen.
Auch wenn manche Fachleute seit der Annexion der Krim versuchen, Russlands Vorgehen mit Schwachstellen in der ukrainischen Politik und Identität zu rechtfertigen: Die Geschichte der ukrainischen Grenzziehung liefert keinen Grund zur Annahme, dass Russlands Einmarsch in die Ukraine unvermeidlich war.
Vielmehr spiegelt Russlands territorialer Expansionismus tief verwurzelte imperiale Fantasien innerhalb der russischen Gesellschaft wider, wonach die Grenzen der sogenannten russischen Welt («mir») durch die Reichweite der russischen Sprache und der russischen Kultur bestimmt werden. Als solche kann sie jeden Staat und jedes Volk betreffen, das zufällig Teil des Russischen Reiches oder der Sowjetunion war oder Teil von Russlands Interessensphäre geworden ist. Das war schon mehrfach der Fall: Neben der Ukraine hat Russland auch die territoriale Integrität der Republik Moldau und Georgiens gefährdet und sich in andere regionale Gebietskonflikte eingemischt, wie im Fall von Berg-Karabach.
Mit der Missachtung internationaler Abkommen hat Russland die Grundlagen der Nachkriegsordnung des Kontinents untergraben. Obwohl es nachweislich weiterhin Kriegsverbrechen begeht, behält es seine ständige Mitgliedschaft und sein Vetorecht in den wichtigsten internationalen Institutionen, vor allem in der Uno und deren Organen wie dem UN-Sicherheitsrat und der Unesco. Die Tatsache, dass Russland immer noch in der Lage ist, seinen Sitz zu nutzen, um jede gemeinsame humanitäre Reaktion auf die kriegsbedingte Notlage der ukrainischen Bevölkerung weltweit zu verhindern, deutet auf eine schwere Krise des internationalen Rechtssystems hin. (Universität Basel/mc/ps)
Dieser Text entstand im August 2023.
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Olena Palko
ist Assistenzprofessorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel und hält ein PRIMA-Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds.