Meret Schneider: Lieber Watch als Wissenschaft
Mit Ernährungsempfehlungen ist es so eine Sache. Sie können maximal unverbindlich, freiwillig und als Vorschläge formuliert sein – die Wogen der Emotionen werden hochgehen, die Schlagzeilen sich zuspitzen und kaum wird eine Empfehlung formuliert, wird empört gegen Bevormundung und Zwang aufbegehrt. Dies ist umso mehr interessant, als es sich bei den Empfehlungen stets um Vorschläge und Informationsvermittlung geht, die letztlich basierend auf wissenschaftlichen Evidenzen dem Individuum zu Gute kommen und die jeder Person zur freiwilligen Beherzigung oder auch nicht vorgelegt werden.
Die Reaktionen auf diese harmlosen Informationen muten angesichts dessen geradezu grotesk an: Von “darauf eine Bratwurst – Posts” über “wider den vegan-Zwang -Petitionen” bis zu Vereinsgründungen wie jener von Carna Libertas ist alles dabei. Der Teller als letzte komplett individuell gestaltete Bastion des Bratwurstbürgers wird mit geschliffenen Filettiermessern verteidigt, als ginge es um Leib und Leben – und das tut es ja auch tatsächlich, wenn auch eher im Wort- als im übertragenen Sinne. Essen ist Emotion, Geborgenheit und Kultur und das lässt man sich nicht nehmen, ein verständlicher Fakt, den sich auch die Industrie und die Lebensmittelwirtschaft selbstverständlich zu nutze zu machen weiss, mit entsprechenden Werbebildern und Produkten genau diese Gefühle evoziert und sich dadurch den Absatz gewisser Nahrungsmittel entgegen jeglicher wissenschaftlichen Empfehlungen sichert – nirgends wird die Freiheit der Konsumierenden so hoch gehalten und gepriesen wie bei der Zusammenstellung des Speiseplans.
So riefen auch die neuen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung eine Reihe gepfefferter Kolumnen, bissiger Artikel und scharfer Wortgefechte hervor. Von Pflanzendiktat, Bevormundung und Wurstverboten war die Rede, was mich neugierig einen Blick auf die Empfehlungen werfen liess.
Um hier nicht falsch verstanden zu werden: Ich stehe zu hundert Prozent hinter einer Genusskultur. Für eine frische Weissmehlbrezel lasse ich alles stehen und liegen, ein Stück echte Schokolade muss sein und sämtliche dattelgesüssten Rohkosttorten mit gesundheitlichem Mehrwert sind mir ein Graus. Echte Zutaten im Mass und guter Gesellschaft genossen sind in meinen Augen der Schlüssel zu einer zufriedenstellenden Esskultur und gerade dies ist es, was wir wieder mehr pflegen sollten; eine Esskultur des Miteinanders, statt einer Ernährung im Stil der Betankung eines Sportwagens, in der jede Mahlzeit in ihre Makro- und Mikronährstoffe zerlegt und auf ihre Funktionalität geprüft wird.
Nichtsdestotrotz ist ein Blick auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse stets gewinnbringend und wenn sie zum Wohlbefinden beitragen umso mehr zu berücksichtigen – nicht dogmatisch, nicht absolut, aber im grossen Ganzen.
Also ein Blick auf die Empfehlungen des Anstosses, die zu den emotionalen Entgleisungen auf Social Media und in Kolumnenspalten geführt hatten. Zentrales Ergebnis der Neuerungen ist eine stärkere Betonung pflanzlicher Ernährung: Über 75 Prozent unserer Nahrung sollten aus pflanzlichen Quellen stammen. Dies primär, weil pflanzliche Lebensmittel förderlich für die menschliche Gesundheit sind – soweit, so wenig Neues, schliesslich empfiehlt auch die Schweizerische Ernährungspyramide aus gesundheitlichen Gründen nur ein Drittel des aktuellen Pro-Kopf Fleischkonsums. Die Hauptunterschiede zu den bisherigen Ernährungsempfehlungen lassen sich kurz zusammenfassen:
- Die neue Empfehlung lautet, täglich zwei Portionen Milch und Milchprodukte mit insgesamt 500 Gramm zu essen – eine Portion weniger als in früheren Empfehlungen.
- Der Fleisch- und Wurstverzehr wurde angepasst und liegt nun bei maximal 52 Gramm pro Tag bzw. maximal 300 Gramm pro Woche, im Vergleich zu vorherigen 300 bis 600 Gramm pro Woche.
- Zudem rücken Hülsenfrüchte, die früher zu „Gemüse“ gezählt wurden, sowie Nüsse, die zuvor unter „Obst“ kategorisiert waren, durch die Einführung eigener Kategorien stärker in den Fokus. Empfohlen wird ein Verzehr von 125 Gramm Hülsenfrüchten (z. B. Erbsen, Bohnen, Linsen) pro Woche und 25 Gramm Nüssen täglich.
- Für eine ausgewogene Ernährung wird nach wie vor empfohlen, täglich mindestens 5 Portionen Obst und Gemüse zu verzehren. Allerdings werden nun keine spezifischen Vorgaben mehr gemacht, wie viele Portionen davon Gemüse und wie viele Obst sein sollen.
Also eine insgesamt leicht stärkere Betonung pflanzlicher Proteinquellen auf Kosten der tierischen – nach Verboten und Verzicht sucht man vergebens. Dass damit auch ein grosser Nutzen für die Umwelt und tatsächlich auch für die Landwirtschaft einhergeht, da Hülsenfrüchte und Kulturen wie Bohnen und Lupinen sehr klimaresistent sind und damit das Ackerland gut genutzt werden kann, sei nur nebenbei bemerkt. Ich sitze im Zug, scrolle durch den Artikel und einige weitere, die er nach sich gezogen hatte und beging den Fehler, einen Blick in die Kommentarspalten zu werfen, in denen bereits zum Fight for your Fleisch geblasen wurde.
Kurz ploppte dabei eine Werbeanzeige auf, und mit der Absicht, sie wegzuklicken, klickte ich zuverlässig darauf. Es handelte sich um eine Werbung für eine Smartwatch und ohne grosses Interesse, so wie ich beim Warten auf den Zug “bitte nicht anlehnen” in allen Sprachen lese, führte ich mir deren Funktionen zu Gemüte.
Schritte zählen. Schlaftracking. Überwacht körperliche Aktivitäten. Kompatibel mit andern Apps zum Foodtracking. Schickt Benachrichtigungen, um zu einem gesunden Lebensstil zu motivieren. Bei langen Ruhephasen motiviert sie zur Bewegung, bei zu kurzem Schlaf ermahnt sie zur Regeneration und bei nicht eingehaltenen Food-Zielen erleuchtet der Tag in roter Farbe. Und zum Schluss: Mit dieser Smartwatch haben sie keine Ausrede mehr, nicht zu trainieren! Kurz: Bevormundung erster Güte in Bezug auf sämtliche vitale Lebensbereiche – nur eben nicht kostenlos und nicht ohne Übermittlung persönlicher Daten.
Ich schaute mich im Zug kurz um und tatsächlich entdeckte ich an diversen Handgelenken ähnliche Gadgets. Gegen das Garmin-Regime wirken die Ernährungsempfehlungen wie der reinste Schlendrian, doch scheinen wir uns lieber von einer zudem ungenau berechneten Schrittzahl um den Block jagen zu lassen, als uns zu überlegen, ob ev. ein höherer Anteil pflanzlicher Eiweisse eine gute Idee sein könnten. Vielleicht müsste die Deutsche Gesellschaft für Ernährung einfach mit Apple und Samsung kooperieren. Wenn nach dem dritten Mal Fleisch pro Woche ein hässiges Smiley aufploppen würde – vielleicht wäre das die Lösung.
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