Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Kommunikationseigentor
Während die Vorfreude auf die bevorstehende Europameisterschaft wächst, ist bereits das erste Tor gefallen. Zu jubeln gab es aber wenig, denn es war ein Eigentor der Europäischen Zentralbank (EZB). Diese hat die Leitzinsen zum ersten Mal seit September 2019 gesenkt und signalisiert damit, dass das Inflationsproblem in der Eurozone markant kleiner geworden ist. Es war ein telefonierter Entscheid, denn es gab im Vorfeld keinen Zweifel daran, dass die EZB im Juni die Zinswende nach unten einleiten würde.
von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen
Sachlich lässt sich der Schritt rechtfertigen. Das Biest Inflation ist zwar noch nicht besiegt, aber die Inflation hat sich seit dem letzten Jahr markant abgeschwächt. Dennoch hat der Entscheid einen schalen Beigeschmack. Er stellt der Kommunikation der EZB ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Wieder und wieder hat Christine Lagarde, die Präsidentin der EZB, betont, man mache die erste Zinssenkung davon abhängig, wie sich die Daten entwickeln. Gebetsmühlenhaft wurde dabei herausgestrichen, dass insbesondere die Daten über die Lohnentwicklung zentral seien.
Man wollte mit dem Entscheid zum Beginn der Zinssenkungen spezifisch bis im Juni warten, weil dann wichtige Daten zu den Lohnabschlüssen des ersten Quartals vorlägen. Und man zeigte sich zuversichtlich, dass die Daten eine weitere Beruhigung des Lohnwachstums anzeigen würden. In der zweiten Maihälfte sind die Zahlen herausgekommen, doch sie zeigten weder in die gewünschte Richtung noch entsprachen sie den Erwartungen der europäischen Währungshüter. Anstatt eine weitere Beruhigung der Lohnentwicklung anzuzeigen, beschleunigte sich das Wachstum der Tariflöhne, eine zentrale Komponente des Lohnwachstums, von 4,5 auf 4,7 Prozent. Eiligst veröffentlichte die EZB in einem Blog Erklärungen, weshalb die nicht wunschgemäss ausgefallenen Lohndaten nicht der richtige Massstab seien, und zog experimentelle Daten heran, um zu zeigen, dass das beschleunigte Wachstum der Lohndaten wohl einen Ausreisser darstelle. Kurze Zeit später enttäuschte auch die erste Schätzung der Inflation im Monat Mai. Die Inflation war im Euroraum wieder von 2,4 auf 2,6 Prozent angestiegen, und auch die um die volatilen Komponenten bereinigte Kerninflation stieg von 2,7 auf 2,9 Prozent.
Hätte man den Worten Taten folgen lassen, hätte die EZB konsequenterweise die Zinssenkung aufschieben müssen. Doch weil man die Märkte im Vorfeld bereits dermassen auf einen Zinsschritt eingeschworen hatte, blieb der EZB kaum eine Alternative, wollte sie die Märkte nicht noch mehr verunsichern. Ein Rückzieher von der seit Monaten komplett eingepreisten Zinssenkung im Juni, zu der sich sogar die Hardliner im EZB-Rat bekannt hatten, wäre als eine sehr überhastete Reaktion aufgenommen worden und hätte an den Märkten Turbulenzen ausgelöst. Vor nichts anderem fürchtet sich die EZB mehr als vor solchen Turbulenzen, denn diese könnten die Risikoprämien der Staatsanleihen wieder unkontrolliert auseinanderdriften lassen und die heikle Schuldenproblematik einiger europäischer Länder verschärfen.
Die unglückliche Kommunikation resultiert letztlich aus einer wenig durchdachten Kommunikationsstrategie. Man kann nicht unablässig betonen, die EZB fälle ihre Entscheide ergebnisoffen bzw. datenabhängig, während die einzelnen Ratsmitglieder im Vorfeld bereits weitgehend vorwegnehmen, wie der nächste Entscheid ausfallen wird. Vor dem Juni-Entscheid hatten sich die einzelnen Ratsmitglieder – unabhängig davon, ob sie eher zu den Tauben oder zu den Falken zählen – derart einhellig zur Wahrscheinlichkeit eines ersten Zinsschrittes geäussert, dass die Märkte einen solchen zu 99 Prozent erwarteten. Zwar vermag eine derartige Kommunikation die Märkte erfolgreich auf bevorstehende Entscheide vorzubereiten, doch datenabhängig ist ein solches Vorgehen dann nicht mehr – und schon gar nicht ergebnisoffen. Der Konflikt ist demnach bereits in der Übungsanlage programmiert.
Und wenn für einmal die Daten für Überraschungen sorgen, manövriert man sich selbstverschuldet in eine Zwickmühle wie beim jüngsten Entscheid. Wenig vertrauensfördernd ist zudem, dass die Lohndatenbank, mit der die EZB die jüngste Beschleunigung der Löhne als einen Sondereffekt abtut, erst später im Jahr öffentlich zu Verfügung gestellt wird. Vor dem Hintergrund des kolossalen Versagens der EZB-Inflationsprognosen und -Inflationsmodelle im Jahr 2022 ist die Glaubwürdigkeit der Analysefähigkeiten der EZB-Ökonomen stark angeschlagen und intransparente Manöver mit experimentellen Daten vertiefen die Skepsis.
Wie geht es nun weiter? Die Ökonomen der EZB betonen selbst, das Lohnwachstum dürfte relativ hoch und ausgesprochen holprig bleiben. Die Lohnentwicklung ist deshalb von Bedeutung, weil steigende Löhne mittelfristig einen Preisauftrieb bei den Dienstleistungen verursachen, der wiederum hauptverantwortlich ist für den inländischen Preisdruck. Nachdem sich die Güterpreisinflation, die die Gesamtinflation zu Beginn dominiert hatte, wieder beruhigt hat, werden die Inflationszahlen mittlerweile hauptsächlich vom inländischen Preisdruck bestimmt. Die EZB wacht deswegen mit Argusaugen über das Lohnwachstum. Auch innerhalb des Lohnwachstums kommt es im Zeitablauf zu einer Rotation. War zu Beginn des Inflationsanstiegs das Lohnwachstum von individuellen Lohnzuschlägen geprägt, mit denen die Arbeitgeber die Arbeitnehmenden zumindest teilweise für die unerwartet hohe Inflation entschädigten, machen mittlerweile die gewerkschaftlich ausgehandelten Kompensationen den Hauptharst der Lohninflation aus. Und diese bewegen sich auf ungemütlich hohem Niveau, sodass das Lohnwachstum noch für eine Weile die Inflation hartnäckig auf einem hohen Stand halten dürfte, zumal in der europäischen Wirtschaft ein zarter Aufschwung Gestalt annimmt.
Mit dem ersten Zinsschritt ist demnach wenig gewonnen. Der vorgezogene Zinsschritt dürfte die EZB zwingen, in den nächsten Monaten die Füsse stillzuhalten. Nur einen Tag nach der Zinswende drehte Christine Lagarde dann auch die nächste Kommunikationspirouette, indem die oberste Hüterin der Preisstabilität in einem Meinungsbeitrag verkündete, die Inflation werde noch lange erhöht bleiben. (Raiffeisen/mc)