Selenskyj und Amherd haben vor Gipfel unterschiedliche Erwartungen
Bürgenstock NW – Bundespräsidentin Viola Amherd und Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj haben zu Beginn der hochrangigen Konferenz auf dem Bürgenstock NW unterschiedliche Erwartungen geäussert. Während Amherd von «bescheidenen Zielen» sprach, ging Selenskyj deutlich weiter.
«Ich bin überzeugt, dass wir hier an diesem Gipfel Geschichte schreiben», sagte er am Samstag vor den Medien vor dem offiziellen Beginn der Konferenz über erste Schritte eines Friedensprozesses im Ukraine-Krieg. Die 101 teilnehmenden Staaten und Organisationen zeigten, dass die Welt stärker sei als Russlands Präsident Wladimir Putin.
«Wir wollen der Diplomatie eine Chance geben», so Selenskyj. Er hoffe, dass bald ein Friede möglich sei. Das hochrangig besetzte Treffen auf dem Bürgenstock zeige den grossen weltweiten Friedenswillen. «Weitere Länder sind zwar nicht hier, unterstützen aber die Idee von Frieden ebenfalls.»
Erster Schritt auf langem Weg
Amherd, die Gastgeberin der Ukraine-Friedenskonferenz, äusserte sich zurückhaltender. Sie sprach hörbar nervös von «bescheidenen Zielen» des Treffens. Die internationale Gemeinschaft könne aber das Terrain bereiten für spätere direkte Gespräche zwischen der Ukraine und Russland, sagte die Bundespräsidentin.
Die Konferenz solle konkrete Schritte für einen späteren, gerechten und anhaltenden Frieden bringen, sagte Amherd. Die Schweiz habe ein existenzielles Interesse an einer auf Regeln des Völkerrechts basierenden Ordnung. Diese habe Russland mit dem Überfall auf die Ukraine verletzt.
Dass die Konferenz «so hochrangig» besetzt sei, sei wichtig, so Amherd weiter. Sämtliche anwesende Staaten, Regierungen und Organisationen könnten ihre Ideen und Perspektiven im Hinblick auf den weiteren Friedensprozess einbringen. Es gelte, gemeinsam einen ersten Schritt zu gehen.
Ukraine offen für Teilnahme Russlands
«Wir wollen diskutieren, wie und unter welchem Umständen auch Russland in den Friedensprozess einbezogen werden kann», sagte Amherd weiter. Es müsse Vertrauen aufgebaut werden.
Andrij Jermak, Leiter des ukrainischen Präsidialamts, zeigte sich grundsätzlich offen, Russland bei einer nächsten Friedenskonferenz dabei zu haben. Zuvor müssten aber Prinzipien und Bedingungen dafür diskutiert werden.
«Es muss von allen Seiten anerkannt werden, dass wir Opfer eines Aggressors sind», sagte Jermak am Samstagnachmittag auf dem Bürgenstock vor Medienschaffenden. Danach könne man auch mit Russland in einen «offenen Dialog» treten.
Gespräche über «menschliche Dimension»
Zwei Jahre Krieg seien genug, so Jermak. «Wir wollen den Krieg beenden und unsere Kinder zurückbringen.» Die Ukraine sei aber auch weiterhin bereit, den Krieg zu gewinnen.
Die Konferenz auf dem Bürgenstock dreht sich offiziell insbesondere um drei Themen: die nukleare Sicherheit, die Ernährungssicherheit und die «menschliche Dimension», wie Amherd ausführte. Sie erwähnte beispielsweise den sicheren Betrieb aller ukrainischen AKWs, den ungehinderten Export von Nahrungsmitteln aus der Ukraine, den Austausch von Kriegsgefangenen, Freilassungen von Zivilisten sowie die Rückkehr von verschleppten ukrainischen Kindern.
Die Verhandlungen über eine Abschlusserklärung zur Friedenskonferenz waren am Samstag noch nicht in trockenen Tüchern. Sie dürften «bis zur letzten Minute» am frühen Sonntag andauern, wie mehrere den Gesprächen nahestehende Quellen der Nachrichtenagentur Keystone-SDA sagten.
Offener Ausgang der Konferenz
Es gebe unter den Delegationen von total hundert Staaten und Organisationen noch mehrere umstrittene Punkte. Teilweise werde um einzelne Wörter gerungen, hiess es. Ob es eine von allen Staaten akzeptierte Schlusserklärung geben wird, war zunächst offen.
Es sind mehrere Szenarien möglich, darunter auch eine Abschlusserklärung ohne Konsens, bei der jeder Staat die Möglichkeit hat, anzugeben, ob er sie annimmt oder nicht. Falls dieses Szenario eintreten würde, wäre dies eine Enttäuschung für die Schweiz als Gastgeberin.
Die Friedenskonferenz in der Schweiz wurde auf Bitte der Ukraine hin organisiert. Kiew erhofft sich davon breite internationale Unterstützung für seine Bedingungen für ein Ende des Krieges gegen Russland. Moskau hatte im Vorfeld kundgetan, nicht an einer Teilnahme interessiert zu sein, und wurde entsprechend nicht eingeladen. (awp/mc/ps)