Rege Wahlbeteiligung in Frankreich – Rechtsruck absehbar
Paris – In Frankreich läuft die zweite Runde der vorgezogenen Parlamentswahl. Dabei entscheidet sich, wie stark der erwartete Rechtsruck in dem wichtigen Nachbarland ausfällt – und ob die Rechtsnationalen von Marine Le Pen sogar an die Regierung kommen könnten. Bis zum Mittag gab bereits gut jeder vierte Wahlberechtigte seine Stimme ab.
Um 12.00 Uhr lag die Beteiligung bei 26,63 Prozent, wie das Innenministerium in Paris mitteilte. Beim ersten Wahlgang vor einer Woche hatte die Beteiligung insgesamt bei 66,71 Prozent gelegen und am Mittag bei 25,9 Prozent.
Bei der letzten regulären Parlamentswahl 2022 lag die Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang am Mittag bei 18,99 Prozent, woraus man das für französische Verhältnisse starke Interesse für die vorgezogene Wahl ablesen kann. Die letzten Wahllokale schliessen am Abend um 20.00 Uhr. Dann wird auch mit Hochrechnungen zum Wahlausgang gerechnet.
Rechtsruck hat auch Auswirkungen auf Europa
Die Französinnen und Franzosen stimmen über die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung ab. Vor allem aber dreht sich alles um die Frage: Hat Präsident Emmanuel Macron mit der überraschenden Neuwahl den Rechten den Weg zur Macht geebnet? Dies wäre ein Einschnitt in der Geschichte des Landes und hätte auch für die europäische Politik grosse Auswirkungen.
Letzte Umfragen sehen keine absolute Mehrheit für das in Führung liegende Rassemblement National (RN) von Le Pen. Demnach kämen die Rechtsnationalen und ihre Verbündeten auf 205 bis 240 Sitze, mehr als doppelt so viel als sie bisher haben. Sie würden zwar die absolute Mehrheit von 289 Sitzen deutlich verfehlen, aber dennoch erstmals stärkste Kraft in der Nationalversammlung, was einen historischer Rechtsruck in Frankreich bedeuten würde.
Demütigende Niederlage für Macron erwartet
Auf Rang zwei liegt demnach das für die vorgezogene Parlamentswahl gebildete neue Linksbündnis aus Grünen, Sozialisten, Kommunisten und Linkspartei. Das Mitte-Lager von Präsident Macron muss laut den Umfrageinstituten mit einer demütigenden Niederlage rechnen, es liegt in den jüngsten Erhebungen auf Rang drei.
Das Macron-Bündnis steht nach dem Machtpoker mit der vom Präsidenten vorgezogenen Parlamentswahl also absehbar vor einem Scherbenhaufen und wird im Parlament aller Voraussicht nach nur noch in stark reduzierter Zahl vertreten sein. Der einst als Erneuerer und Verfechter eines starken Europas gefeierte Macron dürfte nach dieser Blamage im In- und Ausland an Gewicht verlieren.
Wird RN-Chef Bardella Premierminister?
Erwartet wird unabhängig vom Wahlausgang, dass die bestehende Regierung von Premierminister Gabriel Attal noch einige Tage geschäftsführend im Amt ist, bis über die Bildung einer künftigen Regierung Klarheit herrscht. Das könnte allerdings dauern – die Situation ist so verfahren wie lange nicht.
Sollte das RN eine absolute Mehrheit erringen, stünde Macron unter dem politischen Zwang, erstmals einen Premierminister aus den Reihen der Rechtsnationalen – etwa RN-Chef Jordan Bardella – zu ernennen.
Damit gäbe es in Frankreich erstmals seit 1997 wieder eine sogenannte Kohabitation. Das bedeutet, dass Präsident und Premierminister unterschiedliche politische Richtungen vertreten.
Konservative könnten Königsmacher sein
Bei einer starken relativen Mehrheit für das RN wird damit gerechnet, dass dieses versucht, weitere Abgeordnete der bürgerlich-konservativen Républicains (LR) auf seine Seite zu ziehen, um Entscheidungsmacht im Parlament zu erlangen.
Die ehemalige Volkspartei hatte sich im Anlauf zur Wahl gespalten. Ihr Vorsitzender Éric Ciotti hatte unabgestimmt mit seiner Partei eine Kooperation mit dem RN vereinbart, nur eine kleinere Zahl von Abgeordneten folgte ihm aber.
Drohender Stillstand
Offen ist im Moment, wie es in Frankreich weitergeht, wenn der Schulterschluss der meisten anderen Parteien gegen das RN tatsächlich funktioniert. Denn die übrigen Lager – einschliesslich der wiedererstarkten Sozialisten – haben bereits klargemacht, dass sie nicht in einer Art nationalen Koalition miteinander regieren wollen. Dann könnte die aktuelle Regierung als Übergangsregierung im Amt bleiben oder eine Expertenregierung eingesetzt werden. Neue Vorhaben könnte eine solche Regierung ohne Mehrheit nicht auf den Weg bringen – Frankreich droht damit politischer Stillstand.
Macron hatte nach dem Sieg von Le Pens Rassemblement National bei der Europawahl Anfang Juni die Nationalversammlung aufgelöst und eine Neuwahl angekündigt. Die Nationalversammlung ist eine von zwei französischen Parlamentskammern. Sie ist an der Gesetzgebung beteiligt und kann per Misstrauensvotum die Regierung stürzen. (awp/mc/ps)